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Herr D. , die Nachbarin und der 1. Mai

Seitenblick

Von Hans W. Korfmann

"Der 1. Mai ist auch nicht mehr das, was er mal war!", sagte Herr D., als er die Nachbarin aus dem 2. Stock traf. "Aber wir könnten trotzdem ein Bier trinken", meinte Herr D. Er kannte sie gut, die Nachbarin und ihren Mann, sie hatten schon unzählige Biere zusammen getrunken, sie begossen gegenseitig ihre Blumen, wenn einer von ihnen in den Urlaub fuhr, sie pflegten sozusagen eine liebenswerte nachbarschaftliche Solidarität. Auch einen 1. Mai hatten sie schon gemeinsam gefeiert. Aber diesmal sagte die Nachbarin: "Ich habe keine Lust mehr auf diese Biergärten. Mir gehen die Wessis allmählich auf die Nerven."

Eigentlich liebte Herr D. die Wahrheit. Er schätzte auch Menschen, die die Wahrheit sagten. Allerdings gab es Wahrheiten, die ungemütlich waren. So wie diese. Denn schließlich war auch Herr D. ein Wessi, und auch, wenn die Nachbarin ihn aus ihrem Pauschalurteil ausklammerte, fühlte er sich persönlich angesprochen.

Sie empfand sicherlich ähnlich, als Herr D. antwortete, dass es ihm mit den Ossis auch nicht anders ginge. Seit einigen Monaten schlich er ihnen aus dem Weg. Wahrscheinlich war es eine Art Ermüdungserscheinung, wenn ihn die fünfzehnjährige Protesthaltung der einstigen Ostdeutschen inzwischen ebenso nervte wie die zur Siegerpose erstarrte Arroganz der Westdeutschen. Auf jeden Fall setzte sich Herr D. abends lieber an einen anderen Tisch, wenn er von der DDR reden hörte.

Doch als er die säuerliche Mine der Nachbarin bemerkte, bereute er seine offenen Worte augenblicklich. Obwohl er doch ebenso wie die Nachbarin nur die Wahrheit gesprochen hatte. "Aber wir haben uns Mühe gegeben", fügte er schnell hinzu. "Wir haben fünfzehn Jahre lang Geduld geübt. Wir haben uns an einen Tisch gesetzt und über die Vergangenheit geredet. Wir waren zusammen in den Kneipen, wir haben zusammen gekocht…", sagte Herr D. und holte tief Luft, um die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen aufzuzählen: "Wir haben zusammen Geburtstage gefeiert und den Hof zusammen gestaltet. Wir haben gemeinsam einen Brief an die Hausverwaltung geschrieben und wir haben vor dem Brandenburger Tor für einen Nationalfeiertag zum Gedenken an die Gefallenen der März-Revolution demonstriert. Wir haben am 1. Mai an die Arbeiter gedacht und waren meistens einer Meinung, wir haben sogar gemeinsam für die PDS gestimmt und gefeiert, wenn wir über 5 Prozent kamen…" - "Aber die Mauer würden wir nicht gemeinsam wieder aufbauen!", sagte die Nachbarin und grinste ihn schelmisch von der Seite an. Stimmt, dachte Herr D. Aber er beließ es dabei, das nur zu denken.

Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann

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