Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Herr D. und der Ball

Seitenblick

Von Hans W. Korfmann

"Könnten Sie noch mal kurz auf Markus aufpassen?", fragte die Nachbarin aus dem ersten Stock. "Aber nur bis vier!", entgegnete Herr D. "Ich muss noch was einholen, bevor die die Kassen stürmen."

Also zogen sie los, Markus und Herr D. Trotz Regen. Aber die paar Wassertropfen auf der Haut des jungen Fußballfans würden augenblicklich verdampfen, wenn dieser starten und dem runden Leder nachlaufen würde, das ihn seit etwa einem Monat auf Schritt und Tritt begleitete. Ebenso wie die vielen anderen Jungen und Mädchen in ganz Deutschland, dachte Herr D., Inländer und Ausländer, jene, die mit Löchern in den Schuhen im Gitterpferch zwischen zwei im Krieg stehen gebliebenen Brandwänden Tore schossen und jenen, die mit Stollen unter den Schuhen gepflegten Rasen traten. Bei diesen Großereignissen wurde auch Herr D. pathetisch.

Der Sechsjährige trabte also, den Ball neben sich herlaufen lassend, erwartungsfroh den Kindern am anderen Ende des nassen Rasens entgegen, als von hinten ein Ball angeschossen kam, knapp an Markus vorbeisauste und Kurs auf ein kleines Kind nahm, das noch unsicher auf den Beinchen stand. Augenblicklich ließ Markus seinen Ball fallen, stürmte dem anderen hinterher, um den scheinbar unvermeidlichen Zusammenprall zwischen Ball und Baby zu vermeiden. Das Geschoss aber flog knapp an dem Kind vorbei. Markus auch. Das Kind geriet durch die Turbulenzen ins Stolpern und fiel rücklings in eine knöcheltiefe Pfütze. Herr D. wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

Aber es gab nichts zu lachen. Denn im nächsten Moment raste eine runde, umständlich in viele Tücher gewickelte Frau schreiend an ihm vorbei auf das Kind in der Pfütze zu. Beim Bremsversuch kam auch sie ins Schlingern, breitete die Arme aus, und dann lag sie in der Nachbarpfütze. Hysterisch planschte sie im Wasser herum und schrie: "Er wollte mein Kind töten. Hilfe, er wollte mein Kind töten..."

Innerhalb von Sekunden versammelten sich drei Bengel in Trikots und eine kleine Abordnung von Menschenrechtsvertretern um Herrn D. und die beiden Opfer und diskutierten über Fußballrowdys und Ausländerfeindlichkeit, während Markus mit dem Ball unterm Arm einen betroffenen Eindruck machte. Herr D. jedenfalls kam zu spät zum Supermarkt, die ganze Welt stand Schlange an der Kasse. Und Herr D. dachte über den blöden Satz nach: "Die Welt zu Gast bei Freunden."

Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann

zurück