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Herr D. bei Buch und Bauch

Wie in einer literarischen Kreuzberger Nacht einmal das Gespräch abschweifte

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Es war eine dieser lauen Sommernächte, in denen Berlin nicht an der spröden Spree, sondern am Mittelmeer zu liegen schien. Die Tische standen auf den Straßen, gegessen und getrunken wurde draußen, das Volk wanderte umher und besah sich seine Stadt und seine Einwohner. Also auch Herr D.

Aber diese Nacht war eine besondere. Es war die lange Buchnacht der Oranienstraße. In den Bibliotheken standen sie und lauschten den Worten. In den Buchläden sangen Liedermacher ihre Texte zur Gitarre, selbst auf der Straße krümmten sich Dichter im Schein einer Leselampe über ihr Werk, umgeben von dem kleinen Kreis des Fanpublikums und dem großen Kreis der Schaulustigen, die am Straßenrand, auf Fenstersimsen und auf den Stühlen saßen, die sie aufs Pflaster gestellt hatten, als handele es sich bei der Oranienstraße um ihr Wohnzimmer.

Zwischendurch duftete es nach Falafel und orientalischem Gebäck, die Nacht war voller Wohlgerüche, und die Frauen wurden von Stunde zu Stunde schöner. Herr D. fand, dass sich Berlin im Sommer und Berlin im Winter etwa so zueinander verhielten wie Dr. Jekyll zu Mr. Hyde. Herr D. hatte Durst und setzte sich an einen Tisch, an dessen Ende einige junge Leute saßen und sich unterhielten. Neben ihm saß ein Herr mit silbergrauem Haar, einem Buch vor sich und einer jungen Schönheit neben sich. Als nach zehn Minuten noch immer kein Kellner gekommen war, stand sein Nachbar auf, verbeugte sich vor seiner Blonden und fragte, was es sein dürfe. "Ein Mineralwasser", sagte sie.

Der Graue wollte mit der Bestellung davongehen, da sagte Herr D.: "Könnten Sie mir ein Pils mitbringen?" - "Und hier noch zwei Caipirinha, zwei Rotwein, ein Hefeweizen und . . .", rief die Runde. Der Graue musste aber eingestehen, dass er sich das unmöglich merken könne. Er sei damit schon bei drei Getränken völlig überfordert.

Am Tisch mit dem Mineralwasser trinkenden Pärchen und der weinseligen jungen Vierergruppe am anderen Ende herrschte eine vertraute, familiäre Stimmung: "Das muss man sich einmal überlegen. Diese Dinger gibt es seit 1920. Und jetzt, fast ein Jahrhundert später, kommt man plötzlich darauf, dass es sie nur in einer einzigen Größe gibt!"

Die Frauen kicherten, und die Männer fühlten sich in ihrem Element. "Da stellt man plötzlich fest, dass die Dinger nicht dicht sind, weil sie nicht richtig sitzen. Dass sie keine 100-prozentige Sicherheit bieten, sondern eine höchstens 50-prozentige. Dass es ganz einfach verschiedene Größen geben müsste: ,S', ,M', ,L' und ,XL' - ist doch klar!"

"Da muss man die Automaten ja mit einem Sichtschutz versehen, um eine gewisse Diskretion zu wahren", wagte eine der Damen einen nicht unberechtigten Einwand. Auch der graue Nachbar zu Herrn D.s Rechter mischte sich nun in das Gespräch: "Ich bin da kein Fachmann, aber soviel ich weiß, ist die Relation der Länge des Präservativs zur Länge des Trägers relativ gleichgültig. Man braucht die Dinger ja nicht in ganzer Länge aufzurollen, sondern nimmt eben nur so viele Zentimeter, wie man braucht."

"Genau!", meldete sich der Fachmann vom anderen Ende, "aber was ist mit der Breite! Das eigentliche Problem ist ja der Umfang des Ringes. Und der rollt eben auch! Rauf und runter, rauf und runter . . ." - "Man müsste einen One-size-Präser erfinden!" - "Stretch!", sagte kühl die Blonde und nippte an ihrem Mineralwasser.

Allmählich kam man ins Fantasieren, und am Ende fanden sich an dem Tisch in der Oranienstraße einige interessante Varianten zur Schließung der Marktlücke. Notwendige Varianten. "Denn das Schlimme ist ja, dass es sich hier nicht um ein lapidares Vergessen handelt, sondern um ein folgenschweres Versäumnis. Wenn das Ding nicht sitzt, dann hat das ja nicht selten fatale, unvorhersehbare Spätfolgen . . .".

Endlich, nach zwei Stunden, zahlte man und erhob sich. Nur die Frau mit dem Mineralwasser zögerte noch. "Ich trau mich nicht!", sagte sie und sah ihren grauen Mann an. - "Nu mach schon!" Schüchtern lächelnd und etwas umständlich rückte sie ihren Stuhl fast einen ganzen Meter zurück, um über der Tischkante einen melonenförmig angeschwollenen Bauch zu präsentieren.

Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann

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