Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Bergwertung auf dem Buckel

Herr D. gerät unverhofft mitten in der Stadt in ein Radrennen

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Herr D., der alte Bürohengst, fuhr in seiner Freizeit schon aus gesundheitlichen Gründen gerne mit dem Rad, einem Erbstück mit filigranen Ölnippeln, einer altmodischen Handbremse und einer dicken, zeppelinartigen Lampe vor dem Lenker. So auch an diesem Wochenende, doch kaum hatte er einige Meter und die höchste natürliche Erhebung Berlins, den 66 Meter hohen Kreuzberg, hinter sich gelassen, da geriet er in eine Straßensperre.
"Ü berfall, Demo oder schon wieder der Kanzler, der mit seiner Motorradeskorte zu seinem Amtssitz im Willy-Brandt-Haus fährt", dachte Herr D. und radelte auf die beiden Ordner zu, die neben der Absperrung standen und eifrig auf ihre Mobiltelefone einredeten. Herr D. glaubte, unbemerkt an der Seite durchschlüpfen zu können, um den Umweg über die Hauptstraße zu vermeiden, doch während die Ordnungskraft noch immer telefonierte und eigentlich in eine ganze andere Richtung sah, streckte sie hinter sich den Arm aus und gebot dem Radfahrer mit seiner defekten Handbremse energisch Einhalt.
" Sie wollen doch wohl mit dieser alten Gurke da nicht auf die Rennstrecke, oder?" Im nächsten Moment vernahm Herr D. einen ihm bislang unbekannten, hell surrenden Ton, und kurz darauf bog ein Feld rasender Fahrradfahrer um die Ecke, wie er es bisher nur im Fernsehen gesehen, aber nie gehört hatte. Herr D. war in das "53. Rund in Kreuzberg" geraten.
" Die sehen ja aus wie echt!", sagte Herr D. "Die sind auch echt!", antwortete der Ordnungshüter.
" Ich meine, die sehen ja wirklich so aus wie beim Giro d’Italia oder so!" "Die fahren auch so schnell wie die beim Giro!", antwortete der Streckenposten, "und wenn Sie denen zwischen die Speichen geraten, dann sieht’s schlecht aus für Sie und den alten Drahtesel!"
" Sind die hier auch gedopt?", wollte Herr D. wissen. Der Ordner runzelte die Stirn: "Sind Sie von der Presse, oder was?" Herr D. war beleidigt. So sah er wirklich nicht aus.
Es war kein guter Tag, er hatte es schon beim Kaffee geahnt. Während Herr D. sein Rad am Streckenrand entlangschob, ließen die Zuschauer argwöhnische Blicke von ihm zu seinem Rad und wieder zurück zu Herrn D. wandern. Obwohl doch alle, die sich hier versammelt hatten, mit Rädern unterwegs waren: Die Kinder kamen auf Tretrollern aus silbernem Aluminium angerollt, die Heranwachsenden auf schweren Mountainbikes, die Ausgewachsenen saßen in eng anliegenden Fahrradhosen auf den windschnittigen Satteln luxuriöser Leichtmetallräder, und die Opis kamen in durchgestylten Rollstühlen voller Aufkleber daher.
Keines der Fahrzeuge zog die geringste Aufmerksamkeit auf sich, allein D.s Drahtesel war ein Blickfang. So wie der LKW, der sich quer über den Gehsteig gestellt hatte, damit man den Schriftzug "Herz – Autovermietung" besser lesen konnte. Oder wie dieser strategisch günstig platzierte Wagen, auf dessen Karosserie die überlebensgroße Fotografie eines gewissen Gary Fisher auf seinem Rad prunkte. Oder wie dieser Lieferwagen der Firma Schultheiss mit seinen drei riesigen Biergläsern auf der Seite, der dem Feld jener Radfahrer hinterherfuhr, die gerade um den "Großen Schultheiss-Preis" strampelten.
Besonders aus den silbernen Servicefahrzeugen des "Winfix Techem Teams", der "Zehlendorfer Eichhörnchen" und des "Teams Red Bull" mit ihren halben Rädern auf den Dächern verfolgten ihn neugierige Blicke. Ganz zu schweigen von den mitleidigen Mienen der jungen Mädchen in den kurzen Röcken, die für die Zeremonie auf dem Siegerpodest neben dem Zieleinlauf gedacht waren.
" Naja, es ist halt wie beim Giro!", versuchte Herr D. sich aufzumuntern, "nur, dass alles etwas kleiner ist." Besonders der Berg, den die Radler beim so genannten "Magic Mountain-Bergsprint" zu bewältigen hatten. Das hörte sich ja an, als läge Berlin in den Alpen. Dabei ging es gerade mal zwei Querstraßen auf einen Sandhügel hinauf. "Fünf Prozent Steigung hat das internationale Feld beim ,Magic Mountain- Bergsprint‘ auf der Heimstraße zu bewältigen", dramatisierte der Sprecher. Herr D. dachte daran, dass sogar er die Heimstraße ohne Gangschaltung und ohne Herzklopfen bewältigte. Dass diese Berliner immer überall mithalten und dabei sein wollten, seit sie Hauptstädter waren.
Am Ende aber fand auch Herr D. dann noch Freunde. Während er dem Duft des Bratwurststandes folgte, sich ein Schultheiss holte und an einen der drei Tische neben zwei alte Männer setzte, die keine pinkfarbenen Fahrradhelme, sondern braunkarierte Hüte trugen, rief der Sprecher: "Jetzt führt Gregor Willwohl mit der Startnummer 95 das Feld der Verfolger an." – Da hob einer der beiden Männer das Glas, prostete Herrn D. zu und sagte: "Das is’ bestimmt ’n Berliner. Der will wohl gern!"

Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann

zurück