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In den Pilzen

Herr D. begibt sich unter die Sammler und gerät in die erweiterte EU

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Seit geraumer Zeit fand man Herrn D. jeden Abend vor dem Fernseher. Nicht pünktlich um Acht wie den Rest der Nation, sondern exakt um 14 Minuten nach Acht. Die Nachrichten nämlich begannen Herrn D. zu langweilen. Sie unterschieden sich nur noch in Details voneinander und waren ansonsten die Wiederholung der Nachrichten vom Vortag. Hinzu kam, dass Herr D. die ewigen Lügengeschichten deutscher Politiker vom nahenden Aufschwung und die immer gleichen Ausreden profitabler Großunternehmen für die Vernichtung tausender von Existenzgrundlagen nicht mehr so gut ertrug wie früher. Herr D. jedenfalls erwartete im Fernseher nur noch eines: den Wetterbericht.

Doch auch unter den Meteorologen häuften sich die Falschmeldungen. Man bekam die Welt einfach nicht mehr in den Griff. Wie oft schaltete die Liebich im Büro ihr "Gutelauneradio" ein, das den ganzen Morgen vom strahlend blauem Himmel über Berlin quasselte, während draußen die größten Hagelkörner der letzten vier Jahrhunderte vom Himmel fielen. Auch die seriösen Damen und Herren der öffentlich rechtlichen Fernsehanstalten hatten Herrn D. schon des öfteren wunderbare Sommertage versprochen, und dann regnete es das ganze Wochenende.

Der Regen, sagten seine Nachbarn, die sich im Berliner Umland auskannten, sei ja eigentlich nicht schlecht, im Gegenteil: Wenn es nämlich warm wurde - was hin und wieder vorkam -, dann dampfte der deutsche Wald, als wurzele er in Sumatra, und die Pilze gediehen so fantastisch, als verstecke sich gleich hinter dem Gebüsch die strahlende Ruine von Tschernobyl. Alles, was man brauche, sei ein schöner Tag zum Ernten. Und deshalb wartete Herr D. jeden Abend um kurz nach Acht auf den Wetterbericht.

Nicht umsonst. Eines Samstagmorgens war es so weit: Der Himmel war blau. Herr D. schloss sich mit seinen Nachbarn, Horst und Dietmar, zu einem Konvoi zusammen und radelte die schnurgerade Landstraße entlang, auf der einige Automobile eine Spitzengeschwindigkeit von 200 km/h erreichten. Bis Dietmar plötzlich den Arm ausstreckte und rief: "Da drüben muss es sein."

Der so genannte "Geheimtipp" war leicht zu finden, denn Herr D. und seine Nachbarn waren nicht die Einzigen, die an diesem sonnigen Wochenende mit Körbchen auf dem Gepäckträger nach dem Glück suchten: Überall im Wald standen an Bäume gelehnte Fahrräder, durchkämmten Männer und Frauen, Großväter und Großmütter, Hunde und Kinder das Gelände.

Blicke nach unten
Herr D., seit einem seligen Österreichurlaub ein passionierter "Schwammerlsucher", der beim Anblick eines dickstieligen Steinpilzes ins Schwärmen geraten konnte, sagte: "Das sieht ja eher nach einer Großfahndung aus!" Er wollte vorschlagen, an einem ruhigeren Ort nach Pilzen zu suchen, doch seine Nachbarn verschmolzen augenblicklich mit dem Rest der Pilz sammelnden Nation. Wie die leidgekrümmten Gestalten im Hades, den Blick auf den Boden geheftet wie lebenslängliche Häftlinge beim Hofgang, stolperten sie in den Wald hinein. Und Herr D. hinterher.

Das Heer der Pilzsucher schien eine internationale Truppe zu sein: Herr D. vernahm Russisches, Polnisches und sogar Türkisches zwischen den deutschen Eichen. Der Großteil der Pilzesucher allerdings war einheimischer Natur. "Schaun Sie mal, wie schön!" Eine Frau in Schürze und Gummistiefeln hielt einen ausgewachsenen Pfifferling in die Höhe. "So was gibt's in Tschechien und Polen gar nicht mehr!"

"Nee, weil die da drüben ihre Pfifferlinge schon aus der Erde reißen, bevor sie überhaupt da sind: Stecknadelkopfgroß!", antwortete ein Mann mit Falkenfeder am Hut und dem Gamsbart am Kinn. "Wenn Sie damit hier anfangen, dann…" Der passionierte Pilzsammler drohte mit der Faust. "Außerdem sind die polnischen voll Wasser", meinte die Dicke in den Gummistiefeln. "Die legen sie nämlich in die Badewanne, damit sie schwerer sind."

"Na, Hauptsache, sie bleiben drüben und kommen nicht alle rüber zum Sammeln", meinte jetzt ein älterer Herr in Knickerbockern.

Menschen im Wald
" Na, von irgendwas m üssen die eben auch leben", entgegnete jetzt Herr D. "Immerhin ist das 'ne ehrliche Arbeit." Der Mann blieb stehen und musterte Herrn D. von oben bis unten. "Haben Sie Arbeit gesagt? Pilzesuchen ist doch keine Arbeit. Pilzesuchen ist eine Freizeitbeschäftigung. Pilze sucht man am Wochenende, und nicht wie die hier mit der Taschenlampe. Glauben Sie, ich hab ein Leben lang hinterm Band gestanden, damit ich dann als Rentner keinen einzigen Pfifferling mehr finde?"

Herr D. begann sich zu ärgern wie bei den Nachrichten. "Sie meinen, die Pilze seien fester Bestandteil ihrer wohlverdienten Rente? Das ist doch Quatsch. Es gibt keine festen Bestandteile mehr. Und wir haben auch keine Ansprüche mehr, auf nichts, und wenn Sie das noch nicht kapiert haben, dann frag ich mich, wo Sie die letzten Jahre gewesen sind." - "Bei Siemens in der Halle." - "Auch noch 'ne Firmenrente, was!", rief Herr D., "und sich dann darüber beschweren, dass ein paar Polen und Russen in den Wald gehen und Pilze suchen, um ein paar Euro zu verdienen." Herr D. grüßte und verschwand im Gebüsch. Er ertrug dieses ewige Genörgel nicht mehr so gut wie früher.

"Das ist ja wie damals im Krieg", sagte er, als Horst und Dietmar endlich wieder auftauchten, "da waren auch so viele Menschen im Wald."

"Ist doch auch Krieg", sagte Horst. "Genau", sagte Dietmar. "Und das dicke Ende kommt auch noch."

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

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