Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

In Gedanken

Herr D. begegnet einer Frau, die ihren Job hingeschmissen hat, Hartz IV hin oder her

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Herr D. ging zum Potsdamer Platz, um sich die Plaste-Eulen anzusehen, die Deutschland zur Olympiade nach Athen schicken wollte. 10 000 Eulen. Sie waren nett, doch Herr D. ärgerte sich. Weil Daimler-Chrysler die angeblich geniale Idee nur sponserte, weil es sich bei dem Künstler um einen Professor handelte. Einen, der zuvor schon ganz Berlin mit Plastikbären voll gestellt hatte. Auch Herr D. hatte Ideen, aber egal, wie genial sie waren: Die Ideen des Bürohengstes D. interessierten niemanden. Herr D. versank in Gedanken. Über die Ungerechtigkeit der Welt.
Und stieß gegen eine junge Frau in einem schicken Sommerkleidchen, an dessen Saum der Wind spielte. Herr D. lächelte. "Können Sie nicht aufpassen, Mann!" Herr D. lächelte nicht mehr. "Sie glauben wohl, nur weil sie ein paar Jahre älter sind, muss jeder gleich Platz machen. Ich mache aber keinen Platz!" Herr D. wollte weiter, aber die Frau hielt ihn am Ärmel fest. "Wie wäre es, wenn Sie sich entschuldigen?" - "Entschuldigung", stotterte Herr D. und versuchte, sich zu befreien. Doch die Frau ließ nicht los. "So einfach kommen Sie nicht davon! Sie hören jetzt zu, was ich Ihnen zu sagen habe", sagte die Frau und setzte eine Bierbüchse an die Lippen.
"Sie sind doch betrunken", wandte Herr D. ein, "wäre es nicht besser, wenn wir das Gespräch auf einen anderen Tag vertagen?" - "...auf einen anderen Tag vertagen", wiederholte die junge Frau und zog die Lippe so lang wie die afrikanischen Tellerlippenträgerinnen, "was sind Sie denn für einer! Aber warten Sie mal..." Die Frau holte einen silbernen, elektronischen Terminplaner heraus und blätterte in den imaginären Seiten wie eine Sekretärin, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatte, als den Kalender ihres Chefs zu bearbeiten.
Herr D.s Blick fiel in ihren Ausschnitt und rutschte dann das ganze kirschfarbene Kleid hinunter bis zu ihren Schuhen. Er verstand nichts von Mode, aber er sah, dass Kleid und Schuhe nicht aus der Ramschkiste im Erdgeschoss von Karstadt kamen. Sie klappte ihren Terminkalender wieder zu und sagte: "Nichts mehr frei, erst im August."
"Warum trinken Sie eigentlich so viel?" - "Ach, jetzt kommt er mit der väterlichen Tour! Warum ich trinke? Ich feiere!" - "Und was feiern Sie?" - "Meinen letzten Arbeitstag. Jetzt ist Feierabend, verstehen Sie? Ich habe gekündigt!" - "Haben Sie sich das auch gut überlegt?" Ihm fiel nichts anderes ein als diese Phrase der Ewigbesserwissenden. Herr D. kam sich vor wie ihr Opa, obwohl er höchstens ihr Vater hätte sein können.
"Ob ich mir das überlegt habe, fragt er. Wenn man jeden Monat 3200 Euro aufs Konto bekommt, dann überlegt man sich das zweimal, oder", sagte die Frau, warf den Kopf in den Nacken und setzte die Bierbüchse an. "3200 Euro jeden Monat! Was verdienen Sie, wenn ich fragen darf?" Herr D. zuckte unbeholfen mit den Schultern, "so etwa dasselbe", sagte er. "Und haben Sie Kinder?" fragte die Frau. Herr D. schüttelte den Kopf. "Sehen Sie! Ich schon. Zwei. Beide noch im Kindergarten!" - "Schön", sagte Herr D. "Ja", nickte die Frau, "schön. Aber was verstehen Sie schon davon."
Herr D. wollte beleidigt sein, aber das kirschfarbene Kleid zog ihn an wie eine Blüte das honigsammelnde Insekt.
Es war die Hölle
"Und der Vater?"
"Der ist gestorben. Der Chef verlangte, dass er durchfährt. Sonst hätten Sie ihm gekündigt. Da ist er irgendwann in seinem Brummi eingeschlafen, mit 120 kmh. Und nicht mehr aufgewacht." - "Schweine", nickte Herr D.
Die Frau trank in einem Zug aus, warf die Büchse ins Gebüsch und holte zwei neue aus der Handtasche. "Woll'n Sie auch eine?" Herr D. nickte, zog an der Lasche, stieß an und warf den Kopf zurück, so gut er konnte. Das Bier war brühwarm, er verzog das Gesicht.
"Aber wenn Sie keinen Mann mehr haben und zwei Kinder, dann..., ich meine, sie sollten sich das noch mal überlegen mit dem Job. Wenn im Januar das Hartz-Programm in Kraft tritt und alle, die keine Arbeit haben, nur noch ein paar hundert Euro bekommen... Ich sag Ihnen, das wird die Hölle!"
"Ich habe es mir überlegt", sagte die Frau. "Es war die Hölle." - "Ärger mit dem Chef?" - "Ich soll jetzt jeden Tag bis fünf bleiben. Fürs gleiche Geld! Aber irgendwo ist Schluss. Ich lebe doch nicht, um zu arbeiten, sondern ich arbeite, um zu leben."
"Ja, aber die Kinder", wandte Herr D. ein. "Genau", sagte die Frau und hob die Bierbüchse. "Genau! Die Kinder! Wissen Sie, wie das ist, wenn man seine Kinder aus dem Kindergarten abhohlt und die stehen schon seit zwei Stunden an der Treppe und warten auf Papi oder Mami? Und wenn keiner in diesem verdammten Kindergarten da ist, der sich um sie kümmern kann, weil die Hälfte der Erzieher entlassen ist. Wissen Sie, wie sich das anfühlt? Nee, das wissen Sie nicht. Das weiß überhaupt niemand. Und deshalb können mich alle hier mal am Arsch lecken."
In diesem Moment kamen zwei Kinder angelaufen, mit wehenden Kleidchen und ausgebreiteten Armen. "Mama, hast Du die Eulen gesehen? Mama, komm mal mit..." Und während die beiden Mädchen ihre Mutter zu den Eulen zogen, wandte sie sich noch ein letztes Mal um und sagte: "Deshalb hab ich aufgehört! Verstehen Sie? Gut! Jetzt können Sie gehen!"
Herr D, versank in Gedanken. Über die Ungerechtigkeit der Welt.

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

zurück