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Legenden der Leidenschaft

Herr D. versucht Jimi H. ohne Eintrittskarte zu besuchen und muss sehr kämpfen, ehe er das mit Sternen gesprenkelte Banner hören darf

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Es gab Dinge, die konnte sich Herr D. nur sehr schwer vorstellen. Zum Beispiel, dass sein Außenminister oder sein Bundeskanzler früher einmal Jimi Hendrix gehört hatten. Star Sprangled Banner zum Beispiel.

Herr D. hatte diesen Hendrix, der seine Fender auf der Bühne zertrümmerte, nie für einen großen Musiker gehalten. Erst in Berlin, wo Hendrix allgegenwärtig war, in den Kneipen, auf den Demonstrationen und mindestens einmal in der Woche auf irgendeiner Etage seines Mietshauses, hatte er genauer hingehört. Nur deshalb zog es ihn in diese Ausstellung: "Stromgitarren".

Schon auf der Treppe des Deutschen Technikmuseums wehten ihm die vertrauten Klänge entgegen, er beschleunigte seine Schritte, da hielt ihn jemand am Ärmel fest: "Ihre Eintrittskarte bitte."

Herr D. kramte in seinen Jacken- und Hosentaschen, sechs an der Zahl, von rechts nach links und dann wieder zurück. Herr D. hob die Schultern. "Ich muss sie verloren haben!" Der Mann mit dem Gesicht eines Straßenbahnschaffners und einer Frisur, die wenig zu den langhaarigen Stromgitarristen passte, deren Bilder überlebensgroß den Eingang flankierten, nickte und sagte: "Das sagen sie alle!" Er sah ihn an, als hätte sich der Tertianer D. beim Schulfest ohne Eintrittskarte einschleichen wollen.

"Ich habe sie doch gerade eben gekauft. Sie können unten nachfragen!"

"Kann ich nicht. Ich darf hier nicht weg. Sie können höchstens unten fragen, ob ihnen die Dame noch eine zweite Eintrittskarte geben kann."

Herr D. stieg die Treppen wieder hinunter, die Dame am Schalter schüttelte den Kopf. Die Karten seien nummeriert. "Die müsste ich ja aus eigener Tasche bezahlen!", sagte sie in einem Ton der Entrüstung. Herr D. scharrte mit den Füßen. "Sie müssen deshalb nicht gleich das Parkett zerkratzen!", mahnte die Kassiererin und behandelte ihn wie einen Quintaner. Da sah Herr D. die verlorene Eintrittskarte auf dem Boden.

"Na sehen Sie!", sagte der Kontrolleur, lächelte ihn an wie einen Sextaner und reichte ihm einen Kopfhörer. "Überall, wo die gelben Punkte sind, können sie reinstöpseln", sagte er. Jimi Hendrix allerdings hatte ausgespielt. Ein anderer Stromgitarrist, Eric Clapton, war an der Reihe. Herr D. ging zu einer Vitrine, in der eine silberne Rickenbacker von 1930 zu sehen war. Sie sah aus wie ein verbeultes, blechernes Banjo. Herr D. war enttäuscht. Auch die Plattenhüllen der Beatles und der Stones munterten ihn nicht auf. Wie brav sie da alle in Reih und Glied standen und in die Kamera lächelten! Adrett gekleidete Herren, die in ihrer Pose an die Balletttänzerinnen auf dem Plakat des Friedrichstadtpalastes erinnerten. Keine Spur von Revolte. Mick Jagger neben Udo Jürgens auf der Bravo. Mit den Stromgitarristen, dachte Herr D., war es auch nicht anders als mit den Revolutionsführern: Erst der Mythos machte sie zu Rebellen.

"Entschuldigung", sagte Herr D., der auf seinem Gang entlang der Schaukästen beinahe einen Besucher umgetreten hatte, der auf dem Boden vor der Hendrix Vitrine kniete. Zuerst glaubte er, der Mann wolle dem Toten seine Ehrerbietung erweisen. Dann aber sah er, dass der Fan die Brille auf die Nase schob und versuchte, den Text auf einem kleinen Schildchen zu entziffern. Der Lesende antwortete nicht, er hatte Kopfhörer auf den Ohren und hölzerne Clocks an den Füßen. Die langen Haare hatte er zu einem silbergrauen Zopf gebunden. Herr D. mochte diese Zopfträger nicht, diese gepflegten Altachtundsechziger, diese Hippieopas, die mit Pantoffeln im Sessel saßen und immer die gleichen Platten hörten. Genau so, wie Hendrix es gesagt hatte: "Wenn ich sterbe, spielt einfach meine Platten."

Herr D. begann sich zu langweilen. Er lief an dem Proberaum mit Eierkartons, leeren Bierflaschen, vollen Aschenbechern mit Marlboro- und Jointstummeln vorüber, er warf im Vorübergehen noch einen Blick auf Gitarren in Känguruformat, rosarote Herzen, schwarze Totenköpfe und Frauenkörper in allen Farbschattierungen, lief im Laufschritt durch den Raum, wo gleich drei Zopfträger mit Kopfhörern auf Stühlen saßen und sich an E-Gitarren versuchten. Aber dann plötzlich hörte er wieder diese unverkennbare Gitarrenstimme, und als er sich umsah, sah er Jimi. Jimi, der gerade auf die Bühne kam, noch ein bisschen an den Saiten herumfummelte, und dann zu spielen begann. Und noch während er mit seinem Bassisten sprach, flogen diese Finger schon mit traumwandlerischer Sicherheit über die Saiten. Es sah aus, als hätten diese Finger und diese Gitarre sich verselbstständigt, als führten sie ein Eigenleben.

Wie oft hatte Herr D. das gehört, Star Sprangled Banner, und jetzt sah er das Bild zum Ton. Aber das Bild passte nicht zum Ton, ebenso wenig wie die Kulisse aus Müll und Schlamm und dreihundert Fans, die noch geblieben waren an diesem verregneten Montag in Woodstock. Auch Herr D. blieb. 70 Minuten lang, bis Hendrix seine Gitarre zum Gruß hochhob und hinter der Bühne verschwand. Da bemerkte Herr D. die vier Zopfträger, die ihn anlächelten. Und Herr D. lächelte zurück. Freundlich nickend. Er war versöhnt. Nicht jeder Mythos, dachte er, ist nur ein Mythos.

Frankfurter Rundschau - 2005
© Hans W. Korfmann

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