Grenzüberschreitungen als Fingerübung
Wie unterschiedlich Michael Kumpfmüller und Alexander Osang von Ost und West erzählen
Es gibt Bücher, die kann man auf Seite 37 oder 259 aufschlagen – man liest weiter bis zum Schluß. Es genügen wenige Zeilen, und wir interessieren uns für das Schicksal der handelnden Personen. Alexander Osang und Michael Kumpfmüller haben solche Bücher nicht geschrieben. Ihre Protagonisten beginnen uns nur allmählich zu interessieren. Sie fordern Geduld.
Dabei wurden die beiden Erstlinge mit Ungeduld erwartet. Beide wurden hochdotiert und gleichzeitig ins Rennen geschickt: Alexander Osangs Nachrichten und Michael Kumpfmüllers Hampels Fluchten. Eine sechsstellige Summe, erzählt man, zahlte Kiepenheuer & Witsch dem Agenten für Kumpfmüllers Manuskript. Ausführlich plante man einen Werbefeldzug, der Spiegel interviewte rechtzeitig und pünktlich zur Frankfurter Buchbörse lobte Hellmuth Karasek den freien Autor im Literarischen Quartett. Mit Alexander Osang wiederum meldete sich endlich ein Mann zu Wort, dessen Reportagen über den Osten Deutschlands schon immer zur literarischen Form drängten. Mit ungetrübtem Blick für gesellschaftliche Realitäten näherte er sich dem Alltag zwischen Balkon, Parkplatz und Schrebergarten, nie ohne dabei die triste Poesie des Lebens in den Plattenbauten einzufangen.
Zwei Autoren, scheinbar ein Thema: Alexander Osang, aufgewachsen im Osten Deutschlands, Journalist, schreibt über das Leben im Westen. Kumpfmüller, geboren in München, Literaturstipendiat, schreibt über den fernen deutschen Osten. Beide im Jahr 10 nach der Wende. Doch Osangs Roman spielt nach dem Mauerfall, Kumpfmüllers davor. Osang auf dem Innendeckel des Buches blickt ernst, Kumpfmüller lächelt. Zwei Romane aus einem geteilten Deutschland. Zwei Figuren: Landser und Hampel.
Zumindest der mit dem vielversprechenden Namen hätte das Zeug dazu gehabt, einer der großen Buchhalter der Literatur zu werden mit seinen lächerlichen Schulden, seinen falschen Rechnungen, seiner kleinen Welt: dieser Bettenverkäufer Hampel. Oder er hätte zumindest eine hübsche Figur werden können wie Jens Sparschuhs Zimmerspringbrunnenverkäufer. Aber Hampels Hampeleien lassen weder schmunzeln, noch überraschen sie. Selbst als dieser Hampel die Grenze von West nach Ost überschreitet, weil er sich mit seinem Geschäft verkalkuliert und Schulden gemacht hat, ist dies kein Schritt, sondern ein zufälliges Stolpern. Hampel unternimmt nie Schritte. Er spricht es selbst aus: "Wie hieß es doch immer bei ihm? Mal sehen, was daraus noch alles wird, und es wird bestimmt etwas draus, und genau so und nicht anders verschlug es ihn in den Osten." Es scheint, als ginge es dem Autor wie dem Protagonisten, als liefe Hampel voraus und der Autor eile ihm hinterher. Nichts in dieser Geschichte von Hampel muss wirklich geschehen, nirgends ist eine Spur von Kausalität.
Ins Gefängnis nach Bauzen gerät Hampel nicht etwa, weil er in irgendeine Enge geraten wäre, sondern wegen kleiner Betrügereien, die er ebenso im Westen begangen haben könnte. Und Bauzen hätte ebensogut Wuppertal sein können. Abgesehen von einigen unangenehmen Verhören und einem gewissen Herrn Harms, dem Hampel bis zum bitteren Ende der Geschichte immer wieder kleine Informationen zusteckt. Harms ließ zwar Hampel "in seinen Berichten alles schreiben, machte ihn glauben, wie wichtig es für die zuständigen Organe war, daß einer noch die kleinsten Kleinigkeiten bemerkte, und wenn dann ein Hinweis draus wurde, nun gut, und wenn nicht, war es sein Einblick in die geheimen Wünsche und Sehnsüchte der Arbeiterklasse..." Dennoch wechseln die beiden nur wenige Worte miteinander, selten dauert ihre Begegnung länger als einige Zeilen, nie baut sich Spannung auf. Harms taucht auf und verschwindet wieder, ohne eine Bedeutung zu haben, ohne sich irgendjemandem ins Gedächtnis eingeprägt zu haben – auch dem Leser nicht.
Hampel und sein Autor bemerken ohnehin nicht viel von dem, was um sie herum geschieht. Sie sind vor allem mit sich beschäftigt, und mit den Frauen. Gleich zu Anfang listet er sie auf, "die da hießen mit Namen Anna, Bella, Dora, Ljusja, Marga, Rosa und Wanda, und die er unterschied nach ihren Gesängen, wenn sie bei ihm lagen, ihren Muttermalen an verschiedenen Stellen." Fünfhundert Seiten lang flüchtet Hampel zu den Frauen, der Autor verfolgt ihn gewissenhaft und stellt dabei kulinarisches Gespür und eine außerordentliche olfaktorische Sensitivität unter Beweis: "Sie roch nach feinem italienischen Rotweinessig". Ansonsten sind seine Wahrnehmungen durchaus trivialer Natur: "Er schätzte sie Anfang Dreißig, und weil es schon ziemlich dunkel war, als sie sich zwischen all den Betten und Liegen die Kleider vom Leib blätterten..." Und wenn es bei all den Klischees irgendwann zu kitschig zu werden droht, verdreht der Autor kurzerhand die Syntax und suggeriert dem unbedarften Leser Literatur: "der neue Badeanzug zum Glück gefiel ihm".
So hampelt Hampel von einer zur anderen, ohne jemals schlau zu werden daraus. Er lernt nichts und ändert sich nicht. Im Grunde geschieht nichts. Das allerdings wäre schon wieder faszinierend und verleihte dieser traurigen Gestalt in ihrer menschenleeren Welt tatsächlich etwas Tragisches und Literarisches – wenn man nicht ständig das Gefühl hätte, dass hier nicht der Autor seinen Hampel in die Irre schickte, sondern dass der Autor seinem Hampel in die Irre folgte.
Denn Hampel und Kumpfmüller hätten die Grenze nicht überschreiten müssen. Sie haben dort nichts vorgefunden, worüber sie hätten erzählen können. Gera, Bauzen, Berlin verkommen zur verschwommenen Kulisse, aufgebaut aus verblassenden Namen wie Honecker, Ulbricht oder Juri Gagarin, aus gesichtslosen Klassenfeinden und geschichtslosen Brigadeleitern. Heraufbeschworen in seitenlangen Auflistungen von Wunschlisten an die Verwandtschaft im Westen: "2 Dosen Niveacreme, 1 Fläschchen Kölnisch Wasser, 1 Nylonmorgenrock Größe 42-44 (rosarot oder hellblau mit Spitzen), 2 Nylon-Kittel-Schürzen (blau und grün)..." – Mit derlei Zutaten versucht Michael Kumpfmüller seine Fiktion des Heinrich Hampel in der Realität zu verankern.
Auch Alexander Osang wirft einen Blick auf das Warenangebot im ehemaligen Osten und zitiert die Speisekarte: Kartoffelsalat, Nudelsalat, Buletten, Hackepeter, Rollmöpse... - Dann aber schneidet sein im Westen angekommener Protagonist Tintenfisch für eine Party, sinniert über die Preise von Rot- und Weißwein und findet schlicht und begreifend "Sushi roh und Mozarella geschmacklos." Während Kumpfmüller als Zeitzeugen westliche Automarken aufzählt, Karmann Chia oder den Opel Kapitän auffahren läßt, wird bei Osang der Blick auf den Parkplatz vor dem Plattenbau zum Symbol der Wende schlechthin: "Der Parkplatz ist jetzt das Maß aller Dinge. Auf ihm wird festgestellt, wer gut angekommen ist in der neuen Gesellschaft. Die Autos funktionieren. Sie glänzen. Sie erzählen nichts über Schulden, Kredite, Ehestreit."
Osangs Figur, der Nachrichtensprecher Landser, agiert zwischen Fiktion und Wirklichkeit, "an den Schnittstellen von Journalismus und Literatur" wie es der Autor selbst formuliert. Während Kumpfmüller seinen Hampel im freien Raum der Literatur sorglos die Grenzen überschreiten lässt, wobei er sich im Niemandsland der Phantasie verliert, beengt die Realität der Mauer den Nachrichtensprecher Landser noch lange nach ihrem Fall.
Anders als Hampel, der ein Einzelgänger zwischen unbedeutenden Komparsen und drittrangigen Figuren ist, bewegt sich Landser in einem Buch voller mehr oder minder scheußlicher Persönlichkeiten. Schon die real existierenden Personen aus Osangs Reportagen haben nicht selten jenen skurrilen und irrealen Charakter, von dem viele Romanfiguren leider nur träumen können. In seinen Nachrichten hat er offensichtlich die Markantesten von ihnen versammelt und gegeneinander antreten lassen. Landser ist geradezu bedrängt von greifbaren Figuren wie dem Büroleiter Henkels, "diesem Weichbrot", der damit prahlte, das Berliner Spiegelbüro im Osten anzumieten – "doch wenn er wirklich in den Osten gewollt hätte, dann wäre er nach Oberschöneweide gezogen, und nicht in die Friedrichstraße!" – Oder von einer Redakteurin namens Theyssen, der "Besitzerin von zwei Dutzend engen Röcken", die sie nie tragen konnte, da die hinterhältigen Sekretärinnen ihr ein Postfach in Kniehöhe zugeteilt hatten. "Ein Fach für Zwerge. Sie gelangte nur krauchend an ihre Post".
Was diese Gestalten aus Osangs Roman miteinander verbindet, ist , abgesehen von ihrem Ehrgeiz, ihrer Eitelkeit und anderen menschlichen Schwächen, ihr Beruf: Sie verbreiten Nachrichten. Sie arbeiten in Zeitungsredaktionen, im Fernsehen, oder sie dienen als Informationsliferanten. Sie prägen das deutsche Selbstbildnis. Damit hat dieser Roman sein Thema, um das er kreist. Hampel dagegen kreist in einer Endlosschleife um sich selbst.
Neben diesem illustren Aufgebot an Personen gewinnt der Protagonist des Romans nur langsam ein Profil. Landser, der einzige Tagesschau-Sprecher aus der DDR, ärgert sich zwar gleich darüber, dass er Strittmatter als einen "der erfolgreichsten ostdeutschen Schriftsteller" bezeichnen muss. Aber es dauert hundertfünfzig Seiten, bis Landser endlich den Mund aufmacht: "Es stinkt mich an, dass man mit dieser IM Nummer eine Gesellschaft in Gut und Böse einteilen kann. Das ist mir zu einfach. Ich glaube, daß man nicht automatisch schuldig ist, wenn man IM war, genausowenig wie man automatisch unschuldig ist, wenn man kein IM war." Das hatten sie lange schon einmal sagen wollen – Osang und Landser.
So brauchen auch Osangs Nachrichten aus dem Deutschland der 90er Jahre Geduld. Dann jedoch braut sich das zusammen, was am Sunnyboyhimmel Hampels nicht aufziehen kann: Ein Unwetter. Gerade freut man sich über die Geliebte an Landsers Seite, schmunzelt mit ihm über die Party auf Sylt: "Im Garten gab es einen herzförmigen Swimmingpool, der mit rosafarbenen Unterwasserlampen bestrahlt war. So sahen Prominentenhäuser und Gärten in den Derrick-Filmen aus, morgen früh würde dann eine Leiche im Herz schwimmen", gerade geht man mit Landsers Augen durch die Welt des Westens und wünscht ihm Glück, da holt ihn die Vergangenheit ein: Gerüchte einer IM-Tätigkeit. Dann wird man weiterlesen.
Anders als Hampel hat Landser die Seite nicht freiwillig gewechselt. Die Mauer fiel, und das Schicksal nahm seinen anderen Lauf – auch das der Figur Landser. Ohne das Jahr 1989 hätte dieser Roman nicht geschrieben werden können. In Hampels Leben dagegen hätte auch 1989 keine Bedeutung gehabt.
(Michael Kumpfmüllers Hampels Fluchten sind bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, Alexander Osangs Die Nachrichten bei S. Fischer.)
Frankfurter Rundschau - 2001
© Hans W. Korfmann
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