Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Stille, nichts als Stille

Vor 25 Jahren bezog Küster Krenz mit seiner Familie die Räume im Seitenflügel der Heiligen Geist Kirche

Ganz in der Nähe der berühmten Strafvollzugsanstalt Moabit, gleich gegenüber der Moulin Rouge Bar und dem Krankenhaus, ragt ein Kirchturm 78 Meter in die Höhe und gemahnt die Abtrünnigen an ein Leben in Ruhe und Ordnung. Efeu und alte, baumstarke Weinstöcke umranken die 90jährigen Gemäuer, die Fenster, Erker und Nischen des aus roten Klinkern errichteten Gebäudes. Nachts leuchten drei altertümliche Laternen mit spitzen Dächern den Bewohnern heim, die Eichentüren in den handgeschmiedeten Scharnieren öffnen sich geräuschlos. Eine Andeutung von Frieden inmitten Moabits.

Durch das Treppenhaus mit den tadellos weißgetünchten Wänden, entlang dem knarrenden Holzgeländer steigt ein Mann mit einem dichten, grauen Bart, der von einem Ohr bis zum andern reicht, buschigen Augenbrauen und einem freundlichen Zwinkern hinter der Brille. Er steigt bis in den letzten Stock. Seit 25 Jahren bewohnt Herr Krenz gemeinsam mit seiner Frau die Räume im Seitenflügel der "Heiligen Geist Kirche". Stumm blicken die Rehbocktrophäen im langen Wohnungsflur, allesamt Erbstücke seines Onkels. Christliche Symbolik, Wandkreuze und der ehrwürdige Geruch kirchlichen Räucherwerks fehlen in den Räumen des Kirchenwarts. Aber Stille. Im Wohnzimmer nur das Pendeln der Uhr, die dicken, doppelten Scheiben absorbieren die Geräusche der Straße. Durch die strahlend weißen Gardinen mit den seitlichen Samtvorhängen fällt das Tageslicht, sämtliche Fenster gehen nach Süden. Im Erker steht auf einem alabasternen Sockel eine Palme und sonnt sich von allen Seiten, und die Dieffenbachie, ein "bis zu einem Meter hohes Aronstabgewächs" aus Brasilien, wucherte bis unter die Decke der drei Meter hohen Räume, so daß der Kirchwart sie ausquartierte und einen Ableger an dessen Platz stellte, der sich längst ebenso gebärdet.

Mit großen Schiebetüren könnte man das langgestreckte Wohnzimmer in zwei Räume teilen, und jeder von ihnen wäre groß genug, um Känguruhs darin herumspringen zu lassen. Aber Herr Krenz braucht Stille, Licht und vor allem Raum. "Nichts ist schlimmer, als wenn man hochkant überall hindurchlaufen muß. Das liegt wohl an meiner Freiheitsliebe!" Die trieb ihn schon im Alter von vierundzwanzig Jahren nach Australien. Elf Jahre blieb der gelernte Maschinenschlosser dort, arbeitete sich am Rande der Wüste bei Bosch bis zum Meister hoch. Heute repariert er die Kerzenständer für den Kirchenraum, bastelt unten in der Werkstatt an diesem und jenem.

In der Mitte der zweiten Wohnzimmerhälfte hängen locker geflochtene Zöpfe bunten Garns von einem Stickrahmen. An der Wand prunkt, nicht ganz so groß wie Rembrandts Ölgemälde "Der Mann mit dem Goldhelm", ein aufwendiges Stickwerk seiner Frau in einem vergoldeten Rahmen. Seit die drei Kinder aus dem Haus sind, hat die Frau des evangelischen Küsters Zeit für solche Dinge. Auf dem Fernseher stehen die Fotografien lachender Jungen- und Mädchengesichter, und in der Loggia, dem fünften Zimmer der Familie Krenz, liegen noch ihre Stofftiere in den Korbstühlen und warten auf die Enkelkinder. Der Wein, der von unten heraufgeklettert ist, umrankt die drei Fenster des kleinen Refugiums und würde ins Zimmer hineinwachsen, wenn sie ihn lassen würden. Draußen hängt ein hölzernes Vogelhäuschen.

"In der hochherrschaftlichen Zeit war die Wohnung noch wesentlich größer, da ging sie bis hinüber in die Birkenstraße. Ich hab noch die Klingel gefunden, mit der sie nach dem Dienstmädchen gerufen haben. Sogar einen eigenen Dienstbotenaufgang gab es!" Aber 112 Quadratmeter reichen Herrn Krenz zum Leben. Und vor allem: "Ich spar das Fahrgeld zur Arbeit!"

Von der Kirche spricht der Kirchenwart nicht viel. Auch im monumentalen Wohnzimmerschrank aus Nußbaumholz stehen keine frommen Bücher, sondern die 15bändige Ausgabe von Meyers Konversationslexikon aus dem Jahre 1898. Doch nicht alles im Leben braucht einen exponierten Platz, manches findet sich wohl noch auf dem Nachttisch ein.

Herr Krenz lehnt sich zufrieden ins weiche Polster der Wohnzimmergarnitur, vor sich auf dem Tisch, einer Imitation roten Marmors, die dampfende Tasse Kaffee. "Der gute Tisch ist schon in Bad Streben" - dort, auf dem Dorf, haben sie sich ein Häuschen gemietet, für die Jahre danach. Stille. Weit ist es nicht mehr bis zur Pension. Aber zuerst werden sie nach Australien fahren und die alten Freunde besuchen. Sie werden sich Zeit nehmen, ein halbes Jahr mindestens. Und mit dem Schiff reisen, denn seine Frau traut den Flugzeugen noch immer nicht. +++

Berliner Zeitung - 1997
© Hans W. Korfmann

zurück