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tellerrand
Der Kritiker …

… und das Öl

Wolfram Siebeck, der Mann mit dem bestdotierten Geschmacksnerven Deutschlands, ist auf seiner Erkundungsreise durch die Berliner Restaurants auch in die Niederungen der Eonomy Class abgetaucht. Dabei wurde sein verwöhnter Gaumen nicht selten auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Das "Al contadino sotto le stelle" in der Auguststraße war vielleicht die härteste. Schon beim Betreten des Lokals wunderte er sich, dass die Gäste nicht wie üblich nebeneinander, sondern in Ermangelung der Sitzgelegenheiten übereinander saßen. Dann bemerkte er, dass "die Nudelesser noch lauter brüllen" als die "fürchterlich laute Musik". Herr Siebeck muss an diesem Abend vom Pech verfolgt gewesen sein. Vorigen Donnerstag hätte er im "Al contadino sotto le stelle" gleich drei Tische zur Verfügung gehabt, die angeblichen Studenten hatten ihren Doktor alle schon in der Tasche und unterhielten sich in einer Lautstärke, die einen ungestörten Genuss der Musik erlaubte. Auch von dem jugendlichen Leichtsinn der "gut gelaunten Burschen, die den Fraß verteilen", war nichts zu merken. Womöglich hatten sie Siebecks Pamphlet gelesen. Allein die goldenen Sterne an der himmelblauen Kinderzimmerdecke des Restaurants waren tatsächlich noch an ihrem Platz. Der "Fraß" selbst war dem Kritiker kein Wort wert. Nur das Olivenöl fand Erwähnung. Gleich zwei Sorten davon standen zur Wahl. Herr Siebeck muss erstaunt gestutzt haben, als er den angenehm aromatischen Geschmack dieses Öls auf seiner Zunge wahrnahm. Es war nichts daran auszusetzen. Erst, als er das Etikett noch einmal eingehend studierte, konnte der Kritiker erleichtert aufatmen. Herkunft "ungewiss"! Zwar konnte er der Beschreibung entnehmen, dass es in einer Ortschaft namens Tursi abgefüllt worden war. Aber was sagte der Ort der Abfüllung über die wirkliche Herkunft des Öles aus! Natürlich hätte Siebeck einfach fragen können, um zu erfahren, dass es aus einer Gegend zwischen Neapel und Bari stammte und dass die italienischen Gastronomen es selbst von dort importierten. So quälte Siebeck bis zuletzt die Frage,warum keiner sich an "der Primitivität des Ladens" stört, "noch an den groben Speisen, die hier als toskanische Folklore verkauft werden".

Auguststraße 34
Tel. 2 81 90 23

taz - 30.08.2002
© Hans W. Korfmann

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