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Das volle Leben

Die türkisch-deutsche Künstlerin Zeynep Delibalta hat turbulente Zeiten zwischen den Kulturen hinter sich

VON HANS W. KORFMANN

Ihre erste Erinnerung reicht weit zurück. Es könnte das Jahr 1950 gewesen sein. Glaubt man ihrem Pass, war sie damals ein vier Jahre altes Mädchen. Ihren eigenen Recherchen nach allerdings war sie erst drei. Der Weg aus dem Dorf Rize mit seinen Teeplantagen und dem vielen Schnee im Winter war einfach zu weit gewesen, mit dem Pferd oder dem Esel war die Stadt, in der man all die Formalitäten wie Geburtsurkunden, Heiratsanzeigen oder Grundbucheinträge erledigte, eine Tagesreise entfernt. Deshalb machten sich die Leute aus Rize nicht jedes Jahr auf den weiten Weg, und als man das Töchterchen Zeynep ins Register eintragen ließ, waren seit dem letzten Besuch in der Stadt schon wieder zwei, drei Jahre vergangen. So genau erinnerte man sich dann nicht mehr, welches Jahr, welcher Monat oder Tag es gewesen war, als das Kind zur Welt kam.
In ihrer ersten Erinnerung sieht sich Zeynep auf den Armen einer fremden Frau. Das Kind schreit und schlägt um sich, um es herum aufgeregte Männer und Frauen, vielleicht fünf oder zehn. Sie alle stehen in einem kleinen Boot und gestikulieren wild. Endlich wird das Kind weitergereicht, landet in den Armen einer anderen Frau und in Sicherheit. Später erzählt ihr die Mutter, dass Sturm gewesen sei, das Schiff konnte nicht im Hafen ankern. Fischer kamen und nahmen die Passagiere in ihre kleinen Boote auf, um sie sicher an Land zu bringen. Es muss schwere See gewesen sein, die Wellen höher als die Häuser in den Bergen. Die Mutter verließ das Schiff zuerst, das Kind blieb in den Armen einer Fremden zurück.
Wenn dies die älteste Erinnerung im Leben der Bildhauerin Zeynep Delibalta ist, dann vielleicht auch deshalb, weil diese Szene einen symbolhaften Charakter hat. Bis heute bewegt sich die Künstlerin in aufgewühlten Wassern. Wirkliche Ruhe ist in ihrem Leben nie eingekehrt. Sie musste weite und "schwere Wege gehen", um endlich das machen zu können, was sie schon immer hatte machen wollen: Kunst.
Der Wunsch, sich durch Kunst zu artikulieren, ist so alt wie die ersten Bilder, die sie malte, weil sie im Haus "immer still sein musste", aber doch so viel zu sagen hatte, viel erlebte, Geschichten hörte. Vom Vater, der früher mit seinem Dudelsack von Dorf zu Dorf und Fest zu Fest gezogen war, von all den Männern, die in Russland verschollen waren, von ihrem Großvater, der eine letzte Nachricht für seine Familie auf eine Streichholzschachtel kritzelte, als man ihn gefangen nahm. Ein Kurier brachte das Schächtelchen eines Tages in das Dorf in den Bergen: "Sie haben mich gefangen, ich weiß nicht, wohin sie mich bringen werden!"
Immer wieder kamen die Russen in die Berge, das Leben in Rize war hart, an der Küste schien es freundlicher zu sein. Also zog die Familie nach Zonguldak, der großen Stadt am Schwarzen Meer. Der Vater fuhr zur See und pflanzte Mais, um seine siebenköpfige Familie ernähren und die Kinder auf die Schule schicken zu können. Zeynep Delibalta besuchte ein Mädchengymnasium und lernte "alles, was ein Mädchen in der Türkei eben lernen musste", auch Nähen und Schneidern. Beim Abschlussfest führte sie ihr Kleid selbst auf den Laufsteg, das Mädchen aus den Bergen war eine elegante, junge Frau geworden. Doch der Mann, in den sie sich verliebte, interessierte sich nicht für die hübsche Zeynep.
So kam Zeynep Delibalta 1970 nicht der D-Mark, sondern der Liebe wegen nach Berlin. Die 23-Jährige hatte Welten zwischen sich und den Kummer legen wollen. Und dann war da noch ein alter Traum: Zeynep wollte Kunst studieren! Während sie in der Nähe der Kochstraße elegante Kleider und orientalische Morgenmäntel für neue Kollektionen entwarf und dafür wie all die anderen Türkinnen in der Firma den Lohn einer billigen Näherin erhielt, schickte sie ihre Bewerbungsunterlagen an den Senator für Schulwesen. Als man ihr Diplom nicht anerkannte, wollte sie die Firma gleich wieder verlassen, doch Zeynep Delibalta hatte sich für zwei Jahre verpflichtet. Also begann sie, von ihrem wenigen Geld Deutschkurse beim Goethe-Institut zu finanzieren. Zeynep Delibalta hatte sich entschlossen zu bleiben, auch wenn es nichts wurde mit dem Kunststudium. Sie wollte nicht heimkehren, ohne es zu etwas gebracht zu haben. Zeynep Delibalta ist eine ehrgeizige und stolze Frau. "Wir von der Schwarzmeerküste haben bewegtes Blut. Wir können nicht stillsitzen", sagt sie und lächelt nicht dabei, sondern blickt tragisch ernst. Als mache dieses unruhige Blut das Leben schwerer, als es ohnehin schon ist.
Doch dieses Blut hat sie vorwärts getrieben und vieles erleben und erreichen lassen, seit sie 1970 nach Berlin kam. Sie hat Ende der 70er Jahre ein Schneideratelier eröffnet, Arbeitsplätze für türkische Frauen geschaffen und eigene Kollektionen entworfen. Sie hat 1987 in Moabit ein Kulturcafé eröffnet, das "Selam Arkadash!" - "Sei gegrüßt, mein Freund!" Ihr Café wurde zum Podium für junge Künstler, Literaten und Theatermacher. Konzerte fanden statt und Theateraufführungen, während sich im Hinterzimmer die Alternative Liste traf.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends hat sie ihre erste Galerie in Kreuzberg eröffnet und ihre Tonskulpturen erstmals einer breiteren Öffentlichkeit gezeigt. Ganz zufrieden ist Zeynep Delibalta aber noch immer nicht. "Wenn man sein Leben in zwei Stunden erzählt, sieht es aus, als wäre es ein einziges Abenteuer. Aber 34 Jahre in Deutschland sind lang." Und nicht immer schön. "Obwohl ich die Gabe habe, immer beide Seiten, immer auch das Gute zu sehen."
Nachdem Zeynep Delibalta zunächst als Näherin und dann einige Jahre am Mehringdamm in einem Steuerberatungsbüro für ausländische Arbeitnehmer gearbeitet hatte, fand sie in jenen Beruf zurück, den sie bereits in einer Schule in Zonguldak ausgeübt hatte: Sie wurde Sekretärin. Frau Delibalta saß gemeinsam mit einer deutschen Kollegin im Vorzimmer des deutschen Direktors einer Schule in Kreuzberg mit überwiegend türkischen Schülern. "Da habe ich den Zweiten Weltkrieg erlebt! Es war schlimm."
Deutschland 1978: Eines Tages kam ein jugoslawischer Vater, um seinen Sohn einzuschulen. Er sprach schlecht deutsch, hatte deshalb noch einen Cousin mitgebracht, und beide hatten sich für zwei Stunden freigenommen. Frau Delibaltas deutsche Kollegin aber hatte viel zu tun und sagte zu den Jugoslawen: "Kommen Sie morgen wieder!" - "Ich habe mir aber extra freigenommen, ich kann morgen nicht!" - "Kommen Sie morgen wieder!" Die Jugoslawen und die Sekretärin gerieten in Streit, am Ende schlug der Vater die Tür hinter sich zu. "Scheiß Ausländer!", sagte die Sekretärin. "Wie bitte?", fragte die Kollegin aus Rize, und die Deutsche wiederholte: "Scheiß Ausländer!" Da wurde Frau Delibalta wütend und lief zum Direktor. Der sagte: "Aber Frau Delibalta! Sie haben ihre Kollegin gefragt, was sie gesagt hat, und sie hat Ihnen geantwortet. Was wollen Sie denn eigentlich?" Da verflog die Wut der Kollegin Delibalta und verwandelte sich in Trauer.
Doch sie blieb nicht mehr lange, wechselte an eine andere Schule, wo sie über zehn Jahre "arbeitete wie ein Tier. So sind wir von der Schwarzmeerküste eben." Sie verdiente gut, konnte dreimal im Jahr in das Land fahren, das eigentlich ihre Heimat war. 1986 stand sie zum ersten Mal wieder in Rize, saß auf den längst verfallenen Mauern ihres Vaterhauses zwischen den Teeplantagen. Eine deutsche Freundin war mit ihr, und wenn sie gemeinsam durch die Straßen der Stadt am Meer liefen, hielten sie Zeynep mit ihren blonden Haaren und ihrer Deutsch sprechenden Freundin für eine Fremde. Da ahnte sie, dass das Land an der Schwarzmeerküste vielleicht einmal nicht mehr ihre Heimat sein würde. Dass sie eine Fremde wäre, wenn sie zurückkäme. "Ich bin hier und ich bin da eine Fremde!" Deshalb hat sie sich 1995 diese Urkunde abgeholt, sie hatte vorsichtshalber eine Freundin mitgenommen, "ich dachte, das überwältigt mich - nach diesen vielen Jahren als Fremde plötzlich die deutsche Staatsbürgerschaft in den Händen zu halten. Aber es passierte nichts! Gar nichts!"
Jedenfalls kann sie jetzt jederzeit zurück nach Berlin, wenn sie eines Tages vielleicht wirklich versucht, heimzukehren nach Zonguldak. Obwohl sie weiß: "Man kann auch in der Türkei Scheiße erleben!" Doch jetzt denkt sie nicht an Heimkehr. Zeynep Delibalta steht vor einer Wand aus Umzugskartons und fragt sich, wohin mit all den Dingen, die sich im Laufe eines Lebens anhäufen, den Kleidern, dem Hausrat, den Papieren, und vor allem: den Skulpturen. Sie ist am Auspacken, ist an den Urbanhafen gezogen und hat ihr großes Atelier in der Riemannstraße aufgegeben, obwohl Herr Schlabach, der freundliche Vermieter, immer wieder ein Auge zudrückte. Zeynep Delibalta hat Routine im Umziehen, sie wohnte in Neukölln, Schöneberg, Zehlendorf und in Moabit, in Kreuzberg… "Es waren viele Stationen bis hierher. Aber wer sich in sich zu Hause fühlt, ist überall zu Hause."

Frankfurter Rundschau - 2005
© Hans W. Korfmann

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