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Der Mann, der seinen Gitarren treu blieb

Keiner spielt die Gitarre wie Mr. Rudy Stevenson, der schweigsame Gitarrist aus Brooklyn. Einst arbeitete er mit Nina Simone. Ende der 80er-Jahre kam er nach Berlin. Die Stadt wurde sein New York – und Stevenson zum Prinzen des Yorckschlösschens

VON HANS W. KORFMANN

Manchmal steht er auf der Bühne. Mit seiner Gitarre, die er so eigenwillig spielt. In seinem Anzug, der so aussieht, als wäre es ein überholtes Modell aus vergangenen Zeiten. In diesem Jackett, auf dem bis heute etwas vom Scheinwerferlicht der goldenen Zwanzigerjahre zu glitzern scheint: Mr. Rudy Stevenson.

Und manchmal sitzt er im Yorckschlösschen auf dem Sofa ohne Polster. In dieser verrauchten Kneipe mit der kleinen Bühne, dieser Mischung aus Wohnzimmer und Jazzlokal, die kein bisschen gealtert ist, immer so war wie jetzt. Stevenson erzählt und betrachtet die Stromleitungen, die unter dem Stuck entlanglaufen. 17 Stück sind es, dick mit brauner Ölfarbe bestrichen, eine unter der anderen, wie die Bambuswände von Onkel Toms Hütte.

Rudolph Stevenson hat drei CDs hier aufgenommen. Wann Stevenson den Wirt vom Yorckschlösschen zum ersten Mal traf, weiß er trotzdem nicht mehr. Er hebt entschuldigend die Hand, die gerade noch so lässig auf der Lehne des Sofas lag, zieht die Schultern und die Augenbrauen hoch. „Wie soll ich wissen, wann ich Olaf getroffen habe? Das ist schon lange, lange her. Olaf, den Wirt des Yorckschlösschens, ich habe so viele Leute getroffen! Wahrscheinlich hab ich irgendwo gespielt…“

Rudolph Stevenson macht nicht viele Worte. Er gibt auch kaum Interviews. In New York nicht, und in Kreuzberg nicht. Zahlen, Orte, Namen, die nackten Eckdaten einer Biografie, interessieren ihn nicht. Er winkt ab. Und es ist tatsächlich nebensächlich, mit welchen Musikern er welche Hits gespielt hat.

Es sind auch nicht die kleinen Anekdoten aus dem Showbusiness, die fesseln. Stevenson fesselt durch den Ton seiner Stimme. „He’s got the blues.“ Diese Melodie. Diesen eigenwilligen, sanften Ton. Diesen alten Sound, den auch die hölzernen Körper seiner Gitarren alle haben. „Die klingen, ich weiß nicht, woran es liegt, am Holz, am Alter…– aber die klingen einfach wunderbar.“

Zwei Gibson hat er und eine Stratocaster, eine alte Fender. Das gleiche Modell hat Eric Clapton – „You know Eric Clapton?“ – gerade für eine halbe Million Dollar verkauft. Das ist dann eine Zahl, die auch Stevenson nicht vergisst. „Half a Million! A lot of money“, sagt er und massiert nachdenklich seine Schläfe. Vielleicht hat er doch etwas falsch gemacht, aber egal, so ist das Leben. Stevenson hat seine Gibson vor dreißig oder vierzig Jahren – genau weiß er das nicht mehr: „It’s such a long time ago“ – irgendwo in New York gekauft, in einem Secondhand-Laden, für 150 Dollar. „Das war ’ne Menge Geld.“

Aber der Einsatz hat sich gelohnt. Bei jeder Gitarre. Sie sind herumgekommen, er und seine Gitarren. Mit der Super 400 ist er um die halbe Welt getourt. Und er ist ihr treu geblieben. Auch wenn sie nicht die schlankste ist, eigentlich viel zu korpulent für die Fonds dieser kleinen deutschen Automobile. In New York waren die Autos größer. Aber sonst ist Berlin wie New York. „Vielleicht nicht ganz so verrückt.“ Aber es gibt immer was zu essen, die ganze Nacht. Und überall Musik. „I like Berlin. Ich könnte zurückgehen, aber ich will nicht. Manchmal rufen sie mich an und fragen, ob es nicht gefährlich ist hier mit den ganzen Nazis. Dann erzähle ich ihnen, dass ich mit meiner alten Gibson in der U-Bahn in die Clubs fahre und nachts um drei zu Fuß nach Hause gehe.“

Welche seiner Gitarren er am liebsten spielt, weiß er nicht genau. Alles hat gute und schlechte Seiten. Selbst wann er angefangen hat, warum er überhaupt angefangen hat, Musik zu machen, hat er irgendwie vergessen. „It’s such a long time ago…“

Vielleicht waren es die Sechzigerjahre, vielleicht die Fünfziger. Sicher war es New York, Brooklyn, dort, wo er groß geworden ist. Jedenfalls lernte er Saxofon, so wie alle damals. Aber dann gab es dieses Verbot in den Clubs. Das New Yorker „Cabaret Law“. Plötzlich durfte in vielen Vierteln der Stadt kein Schlagzeug mehr gespielt werden, auch in Manhattan nicht. Die schwarze Musik war den Weißen zu laut geworden. Deshalb suchten die Bands plötzlich wie wild nach Gitarristen, die ihre Saiten nicht nur sanft zupften, sondern laut schlugen. Die Rhythmusgitarre wurde zum Ersatz für das Schlagzeug.

So begann auch Stevenson, Gitarre zu spielen. Diese schrammende, rhythmusbetonte Gitarre, die er noch heute spielt. Im Yorckschlösschen. Oder im A-Trane. Oder sonst irgendwo in Berlin. „It was just a job“, sagt Stevenson und schraubt die Stimme bei jedem Wort dieses Satzes einen Halbton höher. Er will sagen, dass er eigentlich nur Musik machte, um Geld zu verdienen.

Den Mythos vom armen Schwarzen, der, beseelt vom Blues, sich aus den kleinen Straßen Brooklyns bis in die 152. Straße hochspielte, bis ins achtzehnköpfige Hausorchester des Apollo-Theaters hinaufzupfte, diese Geschichte erzählt Stevenson nicht. Er hat ein Handwerk gelernt, um Brot zu verdienen, er hat auf der Musikschule Noten lesen gelernt, er trinkt nicht, er raucht nicht. Stevenson war Produzent und Manager am Broadway. Er war mitten drin im großen Musikgeschäft.

Wenn die Stars kamen und „für ein Konzert in der Stadt ein paar Trompeter, Bassisten, Saxofonisten, was weiß ich brauchten, dann fragten sie bei mir nach. Aretha – Aretha Franklin mein’ ich – kam immer zu mir, wenn sie jemanden brauchte. Ich war der einzige Schwarze auf dem Markt, dem sie vertrauten. Ich wusste, wer trank, wer Drogen nahm, und ich wusste, wer unpünktlich war.“ Die Szene war groß, und auch nach dreißig Jahren kannte „the chief“ – wie ihn seine Freunde gerne nennen – nur einen Teil. „Aber ich kannte die Guten. Those who knew how to play that fucking music!“

Kürzlich war er daheim, bei seinen drei Söhnen, in New Jersey. Da hat er sich mal ein Haus gekauft, ein Mietshaus, ewig ist es her. Von dem ersten großen Scheck, den er bekam, 13.000 Dollar – eine der wenigen Zahlen, die er nicht vergessen hat. Es waren Tantiemen für eine kleine schwarze Scheibe, die sich über vier Millionen Mal verkaufte, ein Lied, das um die Welt ging: „Aquarius“ von den Fifth Dimension. „Don’t Cha Hear Me Calling you“, hieß der Titel auf der Rückseite, und der war von Rudolph Stevenson.

Auch dass Stevensons Stücke von Joe Zawinul, George Benson oder Dexter Gordon gespielt wurden, dass Herbie Mann schon 1966 Stevensons „Comin’ Home Baby“ spielte, das weiß kaum noch einer von denen, die dem alten Mann an der Gitarre applaudieren, wenn er mal wieder einen Abend im Yorckschlösschen verbringt. „I just do music. It’s my job“, sagt er und spielt alles ein bisschen runter.

Die Jahre des ersten Erfolgs, als er mit der Lloyd Price Band auf der Bühne stand und jede Nacht Stack-O-Lee spielte, 1959 die Nummer eins in den Charts! Als er den Job beim Apollo-Theater in New York bekam, als er im Duke Ellington Orchestra spielte, und als ihn die berühmte Nina Simone engagierte, die zuvor einen der größten Hits aller Zeiten gelandet hatte: „My baby just cares for me.“ Neun Platten machte er mit ihr, aber keine war so erfolgreich wie diese.

Nach fünf Jahren wechselte er zu den Fifth Dimension. „Man hat mich oft gefragt, warum ich Nina verlassen habe.“ Sie war ein Star. Sie war gut, und sie war eine nette Person. „Aber das war eine ganz einfache Entscheidung: Nina zahlte pro Tour, bei den Fifth Dimension bekam ich eine Monatsgage!“

Jahre später rief sie ihren alten Gitarristen an, sie wolle mit ihm nach Berlin und durch Europa touren. Aber Stevenson, der jahrelang mit den großen Musicals über die Bühnen des Broadway getourt war, hatte gerade einen Vertrag mit André Heller unterschrieben, der mit „Body – Soul“ nach Berlin wollte. „Den Vertrag wirfst du weg!“, sagte Nina. Aber Stevenson wirft keine Verträge weg. Vertrag ist Vertrag. Stevenson ging mit Heller nach Berlin. Und das war 1988. Seitdem ist er hier.

Obwohl Hellers Musical ein Reinfall war. Nach drei oder vier oder fünf Tagen – „I don’t know exactly“ – wurde es wieder abgesetzt. Sie hatten keine Zeit zum Proben gehabt, der Beleuchter verfehlte mit seinem Spot immer wieder die Schauspieler, und bei der Premiere setzte die Musik vom Tape zwei Minuten zu spät ein. Doch Stevenson ging nicht zurück nach New York, er suchte sich eine Wohnung nicht weit von diesem großen Park, der Hasenheide, so einer Art Kreuzberger Central Park.

Wenn Stevenson von New York spricht, leuchten seine Augen. Er liebt den Ton dieser Stadt, den Rhythmus, die Melodie. Als er kürzlich einen Freund wegen eines Jobs anrief und der gleich meinte, Rudy solle vorbeikommen – „but it was sunday“ – da rief Stevenson: „That’s great, that’s like New York!“ Wieder schraubt sich seine Stimme mit jedem Wort des Satzes höher. Sogar das Wetter von Berlin findet Rudy Stevenson schön, es ist wie daheim. Eigentlich ist alles, was Stevenson an Berlin gefällt, das, was ihm auch an New York gefällt. Aber als Olaf ihn einmal fragte, ob er nicht doch Heimweh habe und irgendwann zurück wolle, da sagte er: „Vielleicht. Wenn ich einmal alt werde. Aber das ist ja schon 25 Jahre her!“

Über sein Alter spricht er nicht gern. Stevenson grinst und dreht an einem matten, filigranen Goldring: „It’s such a long long time ago …“ Nicht einmal Wolfgang Rügner weiß es genau. Rügner ist sozusagen der Direktor der Rudy Stevenson All Stars. Er hat sie zusammengetrommelt, und jetzt spielt der alte New Yorker mit lauter Deutschen. „But I don’t care if they are black or white. Das war mir schon immer egal. Auch damals in NewYork. Die müssen was von Jazz verstehen. Und Jazz, weißt du, Jazz, das ist eine Stimme…“

Silvester vor drei Jahren, als Bobby Durham, der Drummer des legendären Oskar Peterson Trios, seinen alten Kumpel in Berlin besuchte, da stieg auch der mit auf die kleine Bühne des Yorckschlösschens und spielte mit den weißen Rudy Stevenson All Stars. Stevensons Blick wandert zu den Stromleitungen an der Decke. „Ich möchte mal nach Afrika“, sagt er plötzlich. „Da komme ich her. Mein Großvater …“ Und es wird klar, dass das Leben und die Musik von Rudy Stevenson doch viel mehr sind als „just a job.“

taz - 2005
© Hans W. Korfmann

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