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Die Leere und das gezeichnete Ich

Kai Stallbörger, der Dichter und Benn-Verehrer, hat sein zweites Leben mit einem kleinen Wort begonnen: "Also . . ."

Man sieht ihn jetzt wieder öfter im Café. Sein Gesicht ist still, fein geschnitten. Es macht trotz seiner vierundvierzig Jahre einen frischen Eindruck, unschuldig, obwohl eine Fährte von Traurigkeit durch den Blick geht, mit dem er die Welt betrachtet und jenen nachsieht, die hereinkommen, hinausgehen, ständig in Bewegung sind. Er ist ruhiger. Er sitzt fast bewegungslos, trinkt die zweite Tasse Tee, vor sich auf dem Tisch ein Buch. Neben ihm auf dem Stuhl ein dunkelblauer Kaschmirmantel, ein elegant geschnittener Hut, manchmal eine Baskenmütze. In der Zigarettenspitze eine filterlose Camel, sogar einen verzierten Gehstock hat Klaus Stallbörger. Ein Schriftsteller wie aus dem Buch.
"Die Menschen sprechen schnell und ohne nachzudenken. Viel Unsinniges. Auch ich habe früher viel erzählt. Aber ich kann jetzt zuhören. Genau zuhören. Ich bin bedächtiger geworden. Ich wähle die Worte mit Bedacht. Denn Worte sind wunderbar. Und ganz langsam nur finden die Worte ihren Weg." Wie viele Dichter und Denker stieß er eines Tages auf das Schweigen und legte den Stift aus der Hand. In den letzten acht Jahren sind nur drei Gedichte entstanden. Kai Stallbörger musste "erst wieder neue Worte finden. Die Worte neu entdecken". Und mit ihnen die ganze Welt.
Dabei hatte jener Peter Rühmkorf, der Einzige, dem er ein Exemplar seines Buches geschickt hatte, ihm in seinem Brief vom 16. März 1998 Mut gemacht: "Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen erst heute auf die Zusendung Ihrer Buchkassette antworte. Der Grund ist einfach und ein wenig komisch. Da bei dem Eintreffen gerade die Maler im Haus waren, geriet es in guter Gesellschaft (Arno Schmidts ,Julia oder die Geister‘ und ,Abend mit Goldrand‘) in eine Buchabteilung für Überformate und verhielt sich dort still bis zum heutigen Tag . . . Zu meinem eigenen Bedauern mußte ich mich in letzter Zeit ganz aus dem Rezensionswesen heraushalten. Es frißt das eigene Leben auf und lohnt die Arbeit oft nicht, weil es nur selten Entdeckungen gibt. Ihr Buch macht da die Ausnahme von der Regel, was ich Ihnen gern schreiben wollte . . ."
Dennoch wurde es still um Kai Stallbörger. Obwohl er unablässig arbeitete an der Sprache. Obwohl es ein langer Weg gewesen war. Er begann mit unzähligen Seiten expressiver Prosa und näherte sich nur "ganz langsam und allmählich" den Gedichten. Den bedachten, dichten Worten, die all diese Zeit zusammenfassten, die Jahre des Philosophiestudiums und die wilden Jahre in den Westberliner Wohngemeinschaften, in denen sie lebten, rauchten, tranken, koksten, das Leben in vollen Zügen zu genießen glaubten und es dabei langsam aussaugten, bis nichts als eine leere Hülle blieb. Die Jahre in der WG mit jenem jungen Mann, der ebenso wie er aus diesem Kaff namens Ibbenbühren kam, und der Wientjes hieß, damals auf den S-Bahnhöfen die Züge abfertigte und unter dem Bett in der Hertzbergstraße einen Ersatzmotor für seinen VW-Bus liegen hatte, den er für Umzüge vermietete. Weil in Berlin alle ständig umzogen. Und der damals zu seinem Freund namens Robben sagte: "Wir werden noch Millionäre mit der Pritsche!" Heute haben Robben und Wientjes 600 Pritschen zu vermieten. "Manche haben eben Glück", sagt Kai Stallbörger.
Andere nicht. Der Dichter fand keinen Verlag. Aber er machte sich nichts daraus. Das war unauslässlicher Bestandteil jeder interessanten Dichterbiografie. Also machte er sich an die Arbeit. Monate der Handarbeit, um wenige bedachte Worte auf den elfenbeinfarbenen Seiten zu hinterlassen. Worte auf 120 handsignierten, selbst gedruckten Exemplaren.
Doch dann kam der 27. September 1992. Ein Sonntag. In der Nacht wurden die Uhren um eine Stunde zurückgedreht, Winterzeit. Ungeduldig wartete man im Künstlerhaus Bethanien auf Kai Stallbörger, der an diesem Sonntagmorgen sein Buch präsentieren sollte. Umsonst. Kai Stallbörger erschien nicht. Denn für Kai Stallbörger kam an diesem frühen Morgen die Zeit zum Stillstand. Noch Jahre später, wenn man ihn nach der Uhrzeit fragte, anwortete er: "Halb vier!" Denn in dieser Nacht halbierte sich das Leben in zwei Teile. In Vergangenheit und Zukunft.
Es war ein schwerer Schlag. Aber die beiden Männer von der Feuerwehr hielten Kai Stallbörger für einen Alkoholiker und nahmen ihn nicht mit sich. Vier Stunden vergingen, bis man den Gestürzten wieder mit Sauerstoff versorgte und die Diagnose stellte: Schlaganfall. Es begann die Zeit der Stille. Der Dichter fand kein einziges Wort mehr im Dschungel seines Gedächtnisses, er "war stumm wie ein Goldfisch!"
Kai Stallbörger sitzt beim Weinhändler Bacco vor der Markthalle in der Sonne und lacht über das Bild vom Fisch im Glas. Ein halbes Jahr dauerte das Schweigen. Und dann, eines Tages, öffnet er plötzlich die Lippen und sagt ein einziges kleines Wort. Er sagt es so, als ob er nach einer kurzen Minute des Nachdenkens nun zu einem Entschluss gekommen wäre und wieder zurückfände in diese Welt: "Also . . ." Mit diesen vier Buchstaben hat er sich aufgerafft, die Sprachlosigkeit zu überwinden. Das Licht der Worte wieder anzuzünden. Weiterzumachen. Denn nichts, sagt er, "ist so wundervoll wie Sprache". Worte sind wie Schiffe, große und kleine, schwer beladene und leicht im Wind segelnde. Sie brechen auf, um Menschen zu verbinden.
Im Arbeitszimmer stehen die großen Denker, Nietzsche, Rimbaud, Irigaray, Kant . . . Er liest sie nun zum zweiten Mal und entdeckt sie neu. "Jedes Wort ist anders jetzt." Aber "alles geht viel langsamer. Sicher, Langsamkeit ist auch schön. Aber hippelig sein ist einfach wunderbar." Manchmal hat er das Gefühl, dass er es nie schaffen wird. Auf seinem Schreibtisch liegt Sartres Mythos vom Sisyphos. Auch der musste diese kleinen Schritte gehen, stieß immer wieder an die gleiche Grenze. "Kleine Schritte sind auch schön, aber große Sprünge sind wunderbar . . ."
Langsam, gestützt auf den Stock, lenkt er seine Schritte zum Grab eines Dichters auf dem Waldfriedhof in Dahlem. Viermal im Jahr tritt er diese Reise an. "Das muss sein! Das ist Pflicht. Ich verehre ihn." Da ist ein Gedicht von Gottfried Benn. Er liest es mit ruhiger, scheinbar gefühlloser Stimme. Als trügen die Worte diesen schweren Sinn gar nicht. "Durch so viele Formen geschritten / durch Ich und Wir und Du, / doch alles blieb erlitten, / durch die ewige Frage: wozu? / Das ist eine Kinderfrage. / Dir wurde erst spät bewußt, /es gibt nur eines: ertrage / – ob Sinn, ob Sucht, ob Sage / dein fernbestimmtes: Du mußt. / Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere / was alles erblühte, verblich, / es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich."
Ein klein wenig lächelt Stallbörger. Benn versteht ihn. Wenigstens einer! Aber es ist Zeit, dass auch andere ihn wieder verstehen. Deshalb hat er wieder zu schreiben begonnen. Mit der linken Hand, langsam, bedächtig. Er hat verstanden, dass er eine zweite, eine seltene Chance hat: Er darf die Sprache noch einmal neu entdecken. "Das ist ein zweites Leben. Ich muss jedes dieser alltäglichen Worte, mit denen andere so achtlos umgehen, noch einmal hinterfragen. Den Sinn prüfen." Und wenn Worte wie Schiffe sind, dann hat Kai Stallbörger bereits wieder eine Flotte kleiner Boote bereit, Fracht aufzunehmen und auszulaufen.
Eines Tages wird er sie erzählen, seine Geschichte. Wie das war früher, und wie das ist jetzt. Wie er da am Fenster sitzt und den Vögeln zuhört, stundenlang. "Ich kann das nämlich." Und wie das war, als er nach vielen Jahren plötzlich wieder etwas schmeckte auf der Zunge. Etwas Altbekanntes, etwas, das er einmal liebte und das noch heute sein Lieblingsgericht ist: Linsensuppe. Und wie nach dem Salz langsam auch wieder die Süße ins Leben zurückkehrte. Er wird sie erzählen, diese Geschichte, mit all diesen neu entdeckten Worten. Und vielleicht steht am Anfang ein kleines, unscheinbares Wort: "Also . . ."

Frankfurter Rundschau - 2001
© Hans W. Korfmann

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