Kreuzberger Chronik
Eine türkische Familie (Teil 1)
Herr Çoban ist ein kleiner Mann mit einer spitzen
Nase und freundlichen Augen unter einer beigefarbenen Baskenmütze.
Er trägt immer ein Jackett und vergisst nie zu grüßen.
Auch dann nicht, wenn er abends einen jener verrauchten Räume
betritt, in denen die Gäste vom Bier schon laut geworden sind
und seine leise Stimme kaum hören. Dennoch grüßt
er selten umsonst. Er hat eine Art hartnäckiger Höflichkeit,
die sich durch allen Lärm, alle Unruhe schleicht. Deshalb sieht
man den unscheinbaren Mann und grüßt ihn: "Hallo,
Süleyman!" Und Süleyman nickt und ist zufrieden.
Süleyman Çoban wiegt "vielleicht
sechzig Kilo". Er hat auch nie viel mehr gewogen. Vielleicht
ist deshalb Bescheidenheit zu seiner Devise geworden. Bescheidenheit,
ein passendes Jackett und gute Manieren. Was hätte es ihm genutzt,
wenn er damals im "Diwan" in der Bergmannstraße
versucht hätte, zurückzuschlagen. Sein Gegner kam aus
einer anderen Gewichtsklasse, und jeder Schlag traf den kleinen
Mann hinter der Theke zielsicher im Gesicht. "Geh doch dein
Geld da verdienen, wo du herkommst!", hatte man ihm zugerufen
und ihm den Döner entgegengeschleudert. Wenn Herr Çoban
davon erzählt, verzieht er den Mund, in einer Mischung aus
Mitleid und Spott: "Was soll das?"
Und wie hätte sich der kleine Mann zur Wehr setzen
sollen, als man ihn eines Tages vom Feld holte und auf das Revier
schleppte. Ihn einen "Eselssohn" schimpfte, an den Ohren
zog und schlug. Weil es viele in den 300 Häusern seines Dorfes
gab, die zur PKK gehörten. Eigentlich gehörten alle Bewohner
Argils dazu, die einen mehr, die anderen weniger. Çoban vielleicht
weniger. Aber das wussten die, die ihn aufs Revier schleppten, nicht.
Sie wussten nur, dass dieses Dorf fünf Kilometer von Ömerli
entfernt war, und dass dort einer der berühmtesten Kurden herkam:
Öcalan. Und sie wussten, dass Herr Çoban Freunde hatte,
die zur PKK gehörten. Denn Herr Çoban hat überall
Freunde. Er hat fast nur Freunde. So ist er eben. Freundlich.
Sogar seinen Feinden gegenüber bewahrt er Höflichkeit.
Er greift nicht an. Dafür versteht er, sich im richtigen Moment
zu ducken. Und sich dann wieder aufzurichten, um es doch noch zu
sagen. Höflich, leise, aber bestimmt, fragte er nach der Tortur
auf dem Polizeirevier: "Warum macht ihr das eigentlich? Was
habe ich euch denn getan?" Sie blieben ihm die Antwort schuldig.
Sie sprachen überhaupt nicht mehr mit ihm. Aber sie beobachteten
ihn fortan sehr genau. Jeden seiner Schritte.
Er sagt heute, er habe keine Alternative mehr gehabt.
Er hätte dieses Land verlassen müssen. Das gelobte Land.
"Mesopotamien." Wenn man Herrn Çoban nach seinem
Land fragt, dann nennt er diesen alten, biblischen Namen. Er weiß,
das kommt besser an bei den Deutschen als "Türkei".
Aber das gelobte Land war schon damals kein gelobtes
Land mehr. Also bestach Çoban 1980 einen Beamten mit 5000
türkischen Lira - "zweihundert Mark, viel Geld damals"
-, um einen Pass zu bekommen, und verließ eine Heimat, in
der "Freundlichkeit, Herzlichkeit und Menschlichkeit"
nichts mehr bedeuteten. Nichts sei so wertvoll wie diese drei Tugenden,
hatte der Vater gesagt. Sein Vater war kein Dummkopf und kein Feigling,
er hatte in drei Kriegen gekämpft, er hatte ein Zimmer voller
Bücher, und er sprach "Französisch, Englisch, Arabisch,
Türkisch und Kurdisch".
Deshalb hat der Sohn Süleyman die Worte des Vaters
immer ernst genommen. Er war noch klein, als die Heuschrecken über
Argil herfielen und sich jeden Tag Hungrige vor dem Haus der Familie
Çoban einfanden, die einige hundert Hektar Land und ein Haus
mit 14 Zimmern besaß. "Er hat die Leute nie abgewiesen,
er gab ihnen Mehl und hat sie zum Essen eingeladen. Das Haus war
immer voll, wie auf dem Bezirksamt", sagt Süleyman Çoban.
Eines Tages stand er, ausgerüstet mit einem Pyjama,
einem Handtuch und einer Flasche Parfum, auf dem Flughafen in Schönefeld
und sagte, er wolle politisches Asyl beantragen. Man ließ
ihn herein. Er fand, den Brief eines Bekannten in der Hand, den
Weg in die Reichenberger Straße 55, "ohne ein einziges
Mal zu fragen. Zuerst mit dem Bus, dann mit der U1, der grünen
Linie, und dann zu Fuß". Der Bekannte traute seinen Augen
nicht, als Süleyman in der Tür stand. Dass dieser kleine
Çoban den Weg ganz allein gefunden hatte! Noch heute strahlt
der Erzähler, wenn er daran zurückdenkt.
Sie nahmen ihn herzlich auf - eine Woche lang. Dann
zog der Emigrant für ein halbes Jahr ins Asylantenheim, zuerst
in Wilmersdorf und später ins "Hotel Tivoli" am Kottbusser
Damm. Und weil Süleyman so ein freundlicher Mensch war, der
seine ganzen 60 Kilo in die Waagschale warf und diplomatisch zu
schlichten versuchte, sobald es Ärger gab zwischen den Pakistanis
und den Afrikanern oder den Türken und den Albanern, zog ihn
eines Tages ein junger Mann von der Sozialberatung auf die Seite.
"Willst du Zwiebel schneiden?" - Herr Çoban hob
die Schultern und sagte: "Warum denn nicht!" Herr Çoban
hält nicht viel von Stolz. Stolz ist nur im Weg, wenn es ums
Überleben geht. In einem fremden Land.
So verdiente er seine erste heimliche Mark. Und so
wurde aus dem Emigranten Çoban die Küchenhilfe Süleyman
des "Hotel Tivoli". Er ist der Gastronomie all die Jahre
treu geblieben, als Aushilfe, als Kellner, als Koch - am Savignyplatz,
in der Bergmannstraße, oder die Wochenenden bei Monika und
Ali im Birkengarten. Die 80 Hektar Mesopotamiens, die er einmal
geerbt hat, die Gärten, Oliven, Pistazien, Birnen und der Traktor,
die gehören jetzt Ilja, dem ältesten Sohn. Das stolze
Haus mit den 14 Zimmern haben sie abgerissen und einen Betonquader
an die Stelle gesetzt. Die Vergangenheit rückt in immer weitere
Ferne. Süleyman hebt die Schultern. "So ist das eben!"
Süleyman ist in den deutschen Küchen nicht bitter geworden.
Das passt nicht zu dem Bild, das er von sich hat.
Er bleibt, so lange es geht, freundlich und höflich
gegen jeden. Er verbeugt sich, ein Gentlemen in bescheidener Weste
und grauem Jackett. Er bewahrt Fassung. Immer. Auch, als sie sich
35 Quadratmeter, zwei Betten, eine Matratze und einen Tisch in der
Fidicinstraße teilten. Durch Acht. Der Fotograf Wolfgang Krolow
bannte eines Tages die bunte Lebensgemeinschaft auf Zelluloid und
berichtete einer Frau beim Bezirksamt von der Enge. Mehrmals durchkreuzten
die Hausbesitzer die Pläne der drei Verschworenen. Es dauerte
Monate, bis sich eine größere Wohnung fand. Doch kaum
hatten die Einwanderer die Tür hinter sich geschlossen, da
wollte man sie wieder hinausklagen. Erst vor Gericht erstritt sich
Çoban sein Anrecht auf die Parterrewohnung in der Fidicinstraße.
Auch sein Bleiberecht erkämpfte er sich vor Gericht.
Zwei Jahre dauerte der Streit. 1985, wenige Monate, nachdem man
in Deutschland beschlossen hatte, dass die Türkei ein demokratisches
Land sei, stand der Kurde vor dem Richter. "Sie müssen
zurück. Aber wenn Sie sich dafür entscheiden, freiwillig
zu gehen, geben wir Ihnen noch einmal drei Monate. Wenn Sie sich
dagegen entscheiden, dann haben Sie noch zwei Wochen!" - Herr
Çoban machte ein besorgtes Gesicht und fragte: "Warum?"
- "In Istanbul haben Sie nichts mehr zu befürchten!"
- "Ich gehe nicht nach Istanbul. Ich bin Kurde!"
Nun legte der Richter die Stirn in Falten. Der kleine
Mann war freundlich, aber hartnäckig. Man ließ einen
Dolmetscher kommen, jenen gutgekleideten Cem Özdemir, der heute
auf den Werbeplakaten der Grünen zu sehen ist. "Ist das
ein Kurde?", fragte der Richter. Özdemir schüttelte
den Kopf. Denn Kurdistan ist groß, und Çoban sprach
einen Dialekt, den Özdemir nicht kannte. Der kleine Mann aber
blieb hartnäckig: "Wenn ich kein Kurde bin, dann sind
Sie kein Deutscher!", sagte er zum Richter. Aber der war ebenso
hartnäckig wie der Çoban. Vielleicht sei er ja ein Kurde
- aber er sei kein politisch Verfolgter. "Weshalb", fragte
nun Çoban und sah den Richter triumphierend an, "weshalb,
glauben Sie, habe ich dann seit fünf Jahren weder meine Frau
noch meine Kinder gesehen? Glauben Sie, ich komme freiwillig in
dieses Land?"
Von seinem Jüngsten, Serdar, kannte der Auswanderer
nur eine Fotografie. Als er geboren wurde, war der Vater schon im
Ausland. Eines Tages schrieb seine Frau, Serdar habe geträumt,
der Vater sei mit einem Flugzeug auf dem Dach gelandet. Süleyman
verbrachte zwei schlaflose Nächte und entschloss sich, über
Griechenland und Damaskus einzureisen. Doch dann musste er feststellen,
dass seine Papiere bei einem Brandanschlag auf die Zentrale Ausländerbehörde
im Wedding verbrannt waren. Die Revolutionären Zellen hatten
damit die Ausländerpolitik der BRD angreifen wollen, doch Çoban
bereiteten sie Sorgen: "Ich hatte schon wieder keinen Pass.
Ja", sagt Süleyman stolz, "mein Leben ist ein Roman!"
Am 2. Februar 1987 reiste er mit einem neuen türkischen
Pass und seiner neuen deutschen Aufenthaltserlaubnis auf dem Flughafen
von Ankara ein, um "Urlaub zu machen". Er kannte den Fahrer
im Bus, doch der kannte ihn nicht mehr. Die Jahre in Deutschland
hatten Herrn Çoban schneller altern lassen als die Daheimgebliebenen.
"Ich sitze heute neben meiner Mutter, als wäre es meine
Schwester!", sagt er und lacht. Herr Çoban macht niemandem
Vorwürfe. Çoban will keinen Streit. Zehn Stunden fuhr
der Bus durch die finstere Nacht, endlich kamen sie in ein finsteres
Dorf. Es hieß Argil und war einmal seine Heimat gewesen. Jetzt
brannte kein einziges Licht mehr in den Häusern, auch die Straßenbeleuchtung
hatten sie abgeschaltet. Dafür standen mit Taschenlampen ausgerüstete
Kontrollen an den Kreuzungen und notierten die Nummern sämtlicher
Fahrzeuge.
Herr Çoban fand das Haus seiner Familie gleich
wieder, obwohl es in der Zeit seiner Abwesenheit um ein Stockwerk
angewachsen war. Aber die Tür war verschlossen. Er hatte seine
Heimkehr vor allen verschwiegen. Aus Angst. Und weil sein Leben
wie ein Roman ist.
Er kletterte über den Zaun und schlich die neue
Treppe hinauf, klopfte an den neuen Türen im ersten Stock.
Nichts rührte sich. Einen Moment lang dachte er daran, wieder
umzukehren. Alles so liegen und schlafen zu lassen, wie es war.
Dann hörte er, wie sich Schritte näherten, und dann die
Stimme eines jungen Mannes: "Wer ist da?" - "Ich
bin ein Freund von Süleyman", sagte Süleyman.
Es antwortete eine Frauenstimme: "Diese Stimme
kenne ich. Das ist kein Freund deines Vaters. Das ist dein Vater!"
(Wird fortgesetzt)
Frankfurter Rundschau - 2001
© Hans W. Korfmann
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