Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Ewig schwarze Finger

Der Handel mit Kohlen war immer eine Schinderei, aber Manfred Nitsche kann selbst heute noch davon leben

VON HANS W. KORFMANN

Das Geschäft war immer hier im Eck: Ganz am Anfang, im "vorvorjen Jahrhundert", stand die Großmutter mit ihrem Gemüseladen und dem Kohlenschuppen im Hinterhof in der Reichenberger 142. Später war es in der Lausitzerstraße, dann am Paul-Linke-Ufer, und vor 30 Jahren zog die Kohlenhandlung Machule in die Mariannenstraße. Manfred Nitsche, der Stiefsohn vom alten Machule, kaufte die komfortable Kriegsbrache, die kaum etwas kostete, weil hier eigentlich einmal die verbreiterte Mariannenstraße durchgehen sollte. Nitsche ist Umziehen ja gewohnt.

Und Nitsche reist gerne. Mit dem acht Meter langen Boot, das er sich Anfang der 60er Jahre zur Verlobung schenkte, ist er im Süden bis zur albanischen Grenze vorgestoßen und im Norden bis nach Kristiansand. Er schwärmt von den Wasserflugzeugen, mit denen die Norweger mal kurz zum Picknick auf die kleinen Inseln fliegen, und beim sechsstündigen Motorbootrennen unterm Eiffelturm belegte sein Team Platz zwei. Mit dem Fahrrad erforschte er schon als Fünfjähriger die Welt, und als Sechzigjähriger überquerte er die Alpen. Bis ihm auf der Tour von Berlin nach Garmisch plötzlich ein Auto entgegenkam. Als seine Frau im Krankenhaus eintraf, waren sie gerade dabei, den alten Nitsche zu entmündigen. Die Ärzte schüttelten den Kopf: "Das wird nichts mehr." Seine Frau sagte: "Aber der doch nich." Nach fünf Tagen im Koma schlug er die Augen wieder auf.

Nitsche ist Kohlenhändler. Und Kohlenhändler sind aus anderem Holz. Hart wie Steinkohle. "Muss ja", sagt Nitsche. Wer einmal Kohlensäcke auf dem Buckel hatte, der lässt sich so schnell nicht unterkriegen. Der geht weiter. Auch wenn der Vater im Krieg an einer Fleischvergiftung stirbt, der Bruder von einem Tonnen schweren Kohlenhänger überrollt wird. Auch wenn die Nazis dem Vater drei der vier Lastwagen nahmen und den einen nur ließen, weil sie den Rückwärtsgang nicht reinbekamen. Auch wenn die Nazis dem Vater die Heirat mit der Mutter verboten, weil die mit 40 eben schon zu alt sei für die Erzeugung des Herrenmenschen. Und vielleicht, weil "Machule" eben doch sehr jüdisch klang.

Heizgeld und Lambrusco

Nitsche steht am Fenster und blickt zurück, die karierte Schirmmütze locker auf dem großen Schädel, eine Hand in der Tasche der Schreinerhose, die andere auf einem großen Brocken glänzenden Anthrazits, der dort liegt, wo andere ihre Geranien haben. Obwohl er eigentlich genug Kohle gesehen hat. Und obwohl das nicht eben leicht war. Es war staubig und dreckig, es war mühselig, das Leben mit der Kohle: Zuerst von den Waggons am Bahnhof "Kohlegrabbeln", dann in die Kästen stapeln, auf den Laster laden, zum Lager fahren, abladen, im Hof stapeln, zu den Kunden fahren, in den Keller tragen, "und am Ende muss der Kunde sie in die Wohnung tragen. Wie viele Handgriffe das waren. Nur damit's ein bisschen warm wird."

Zwar konnte man sich schon im Vorkriegsberlin die Kohlen von arbeitslosen Schlesiern und Pommern in den vierten Stock tragen lassen, und auch Nitsche machte sich das Leben leichter, als er 1976 als erster Berliner Kohlenhändler die handlichen Bündelbriketts einführte und den staubigen Kohlehaufen im Hof durch sauber gestapelte Paletten ersetzte. Aber der Handel mit Kohlen blieb immer eine Schinderei, "und wenn mich einer fragt, was ich an dieser Arbeit liebe, kann ich nur sagen: nischt." Doch Aufhören geht auch nicht. Das Geschäft läuft "so gut wie lange nicht mehr." Denn Nitsche ist einer der letzten Kohlenhändler von Berlin.

Ein Kürschner, dem die Tierschützer zu schaffen machten, sagte mal zu ihm: "Eigentlich wollen wir ja beide, dass die Leute es warm haben. Aber Pelze kauft man eben nicht jedes Jahr neu." So waren die Kohlen eben immer ein sicheres Brot. Vor dem Krieg, als die ganze Stadt damit heizte, und nach dem Krieg, als es Kohlescheine gab, für zwölf Zentner im Herbst und noch mal sieben im Frühjahr. Seit den 70ern gab es den Heizkostenzuschuss dann aber in bar, "und der überwiegende Teil der Kreuzberger hat sich davon mit Lambrusco eingedeckt".

So verlor die Kohlenhandlung Machule ihre Stammkunden. "Wenn wir früher lieferten, dann war der Kaffee heiß und die Schrippen waren geschmiert. Und wenn wir einen Automechaniker mit Brennstoff versorgten, versorgte der unsere Autos. Das war Ehrensache. Sogar Bilder von Künstlern haben wir gekauft, die wären sonst in ihren Ateliers erfroren. Und wir kauften bei dem Metzger, der bei uns Kohlen kaufte. Obwohl wir gewusst haben, dass er seine Zigarrenstummel immer in die Wurstsuppe spuckte und sagte: Bisschen Würze muss ja wohl sein."

Künstler und Buche

Die Leute, die heute zu ihm kommen, kennt Nitsche kaum noch. Lauter wechselnde Gesichter. Wenn das Thermometer unter zehn Grad minus fällt, dann stehen sie samstags bei ihm Schlange wie im Winter '47. Dann kommen die Türken mit ihren Autos auf den Hof gefahren und laden sich den Kofferraum mit dem fossilen Brennstoff voll, "weil der Radiator es nicht mehr schafft". Oder es kommen die durchgefrorenen Haschischraucher mit ihren dicken Pudelmützen und den mit Klebeband ins Portemonnaie geklebten eisernen Reservefünfzigern. Oder es kommen dünne, zitternde Frauchen und sagen: "Eine gelbe und eine Ökotüte - für 5,45." Dann freut sich der alte Nitsche, dass sie die Preise so gut kennen, aber vorsichtshalber schaut er noch mal auf die Liste. "Frauen sagen ja auch nicht immer die Wahrheit." Und lächelt.

Auch die Kunden lächeln, wenn sie aus dem warmen Bretterverschlag des Kohlenhändlers wieder in die Kälte hinaustreten. Weil sie Kohlen haben, und weil es nichts Schöneres gibt als eine warme Wohnung im Winter. Und weil Nitsche nicht so ein alter Griesgram ist wie viele andere seiner Gattung. "Wie ist der werte Name?", fragt er eine junge Frau, "wohin sollen wir liefern?" - "Manteuffelstraße. Aber es gibt keine Klingel da." - "Ham Se Telefon?" - "Ja, schon... - ne Handynummer. Aber das geht über Irland. Eine andere Nummer hab ich nicht." - "Schönes Land, Irland", sagt Nitsche.

"Ich bräuchte Anmachholz. Ach, da steht es ja schon", sagt ein junger Mann mit altem Schlapphut und deutet auf einen Sack mit Holzscheiten. "Nö", sagt Nitsche, "das ist Brennholz. Buche." - "Macht nichts", sagt der Kunde, "ich wollte es sowieso ein bisschen zweckentfremden." - "Künstler, was?" - "Genau", sagt der Künstler und fühlt sich geehrt.

Manche Kunden kennt der alte Nitsche schon länger. Der Mann, der gerade hereinkommt, sieht so aus, als hätte er die Nacht unter der Brücke verbringen müssen. "Ich hätt gern drei Gelbe", sagt er. "Siebenfünfzig", sagt Machule. "Ich mach's bisschen billiger. Weil ich bräucht ne Auskunft von dir." Und dann erklärt er dem Kunden sein Problem mit dem Computer.

Ganz selten kommt auch einmal jemand, der so aussieht, als habe er eine teure Solaranlage auf seiner Villa. "Sie werden sich schon die besten draußen aussuchen, wa", sagt der Kohlenhändler zu dem Mann im Jackett, der gerade bezahlt hat. Der dreht sich in der Tür noch einmal um und fragt: "Und woran erkenn ich die?" - "Reine Gefühlssache. Wenn Se noch Gefühl haben." - "Hab ich schon", sagt der Kunde, "allerdings weniger für Kohle."

Union und Rekord

Die Meisten, die zu Nitsche kommen, wohnen jedoch in den billigen Altbauwohnungen des Viertels, in denen seit ewigen Zeiten die Schornsteine qualmen, weil die Öfen mit rußiger Braunkohle gefüttert werden. Union oder Rekord, Ruhrpott oder Lausitz, West oder Ost? Das ist die Frage. Nitsche hebt die Schultern. Er weiß es auch nicht. "Egal, ob Union oder Rekord: Auf jeden Fall fehlen da noch schlappe 250 Millionen Jahre, damit aus dem Torf mal was Richtiges wird." Harte, weiß glühende, glänzende Steinkohle nämlich. Anthrazit. Alles anderes ist Mist. Es gibt da zwar noch einen, der fährt jedes Jahr ins Ruhrgebiet und holt einen Lkw voll Ruhrkohle nach Berlin, erzählt Machule und verzieht die Unterlippe: "Aber das ist eher was für Nostalgiker."

Kachelofen und Biobrikett

Ganz frei von Nostalgie ist allerdings auch der nüchterne Nitsche nicht. Neben dem Brocken Anthrazit im Fenster steht eine kleine Lore, geschnitzt aus Steinkohle. Und die Miniaturbriketts daneben tragen eine goldene Gravur: Braunkohlenkombinat Senftenberg. Eigentlich hat Nitsche wirklich genug Kohle gesehen in seinem Leben, aber er weiß eben auch, was er ihr zu verdanken hat. Dieser staubigen Kohle. Dieser Schinderei. Diesen ewigen schwarzen Fingern. "Dabei gab es so gute Jobs in den Siebzigern", und alle sahen auf die Kohlenhändler herab. Aber wie viele von denen, die damals in jedem Kohlenhändler einen Betrüger sahen, stehen jetzt auf der Straße.

Auch das Geschäft mit den Kohlen wird es nicht ewig geben. "Weil die ja 25 Jahre gebraucht haben, um endlich diese Biobriketts zu erfinden. Dabei heizen die Schreiner in der Stadt schon seit ewigen Zeiten in den Werkstätten mit gepressten Sägespänen.Jetzt sind die Kachelöfen fast alle abgerissen. Aber für meinen Sohn ist das die Zukunft: Kachelofen und Biobriketts. Sauber, umweltfreundlich, guter Heizwert."

Sohn Christian ist jetzt Kohlenhändler der vierten Generation. Eigentlich ist er Diplomingenieur für Heizung und Klimatechnik. Aber auch er ist ja irgendwie "in den Kohlen groß geworden", sagt Nitsche. "Wahrscheinlich ist er der bestausgebildete Kohlenhändler von Berlin. Fehlt nur noch der Doktor. Das wär die Krönung." Aber egal. Hauptsache Arbeit. Und solange in der Stadt noch Schornsteine rauchen, wird der Sohn wohl mit Briketts handeln. Wie die andern vor ihm. Wie der Vater. Der will ja jetzt nur noch reisen, radeln, Boot fahren "Sonst nützt doch die ganze Arbeit nischt." Nur samstags ist er wieder da, auf dem Platz an der Mariannenstraße. Der alte Nitsche. So ganz kann er eben doch nicht lassen, vom staubigen, legendären schwarzen Gold.

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

zurück