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Wächter der gelagerten Zeit

Herr Schulz führt seine Gäste tief in den Keller und leuchtet mit seiner Taschenlampe die Vergangenheit aus

Er sitzt im Sofa mit den altersschwachen Federn. Eine kleine Gestalt im Blaumann und mit einer schwarzen Kunstlederweste über dem roten T-Shirt. Auf dem niedrigen Tisch drückt ein breiter, flacher Daumen das Taschenmesser in den Brotlaib und schneidet eine Bilderbuchstulle herunter. Wenn ein Fremder anklopft, schaut er kurz durch die großen Gläser seiner Brille. Dann wendet er sich wieder seiner Stulle zu.
Ihm fehlt der durchdringende, prüfende Blick, der in seinem Beruf üblich ist und jedem Unbefugten signalisiert, wer hier das Sagen hat. Dennoch, es ist der Hausmeister. Eigentlich der ehemalige Braumeister Schulz. Aber als Schultheiss die traditionelle Braustätte aufgab und das Gelände verkaufte, sah man sich gezwungen, Herrn Schulz mit zu übernehmen. Denn niemand kannte sich in dem unterirdischen Labyrinth so aus wie dieser Kellermeister.
Seit fünfunddreißig Jahren wandelt Schulz durch die vierstöckige Unterwelt der Kreuzgewölbe, die man anno 1868 in den Tempelhofer Berg baute. Flink wie eine Katze, auch ohne eine seiner sechs eindrucksvollen Taschenlampen im Schrank. Neben den fünfhundert schweren Schlüsselbunden, die jeden Hausmeister mit Passion vor Neid erblassen lassen.
Schulz kennt sich aus. Er kann weiterhelfen. Ob das nun einer ist, der die Autoschlosserei Autonom sucht oder eine von diesen Filmgesellschaften. Wenn die irgendwo ein mittelalterliches Verließ brauchen, Schulz weiß schon, wo das ist. "Na aber selbstverständlich."
Über Stolperstufen und schmale Treppen, unter tropfenden Decken entlang führt er die Neugierigen in die Unterwelt. Oben mögen andere das Sagen haben, hier unten ist Schulz König. "Und wenn eener irgendwelche Wünsche hat, soll er fragen. Ick klär Ihnen dann schon uff." Über sechzig Filmteams waren bei ihm. Und wenn ihnen ein Mann im Overall fehlte, dann übernahm Schulz die Statistenrolle. Klein steht er auf dem Foto neben dem großen Klaus Löwitsch. Aber stolz. "Hier, die verrostete Leiter, die hab ick extra stehnlassen. Da ham se Fotos gemacht. Mann, war das ’ne süße Puppe. Und jefroren hat die da oben auf der Leiter, die war ja halb nackt. Da ham ihr die Knöppe aber abjestanden, sag ick Ihnen. Die Fotos hab ick noch." Als Schulz die kichernde Dame im Tross bemerkt, fügt er hinzu: "Sie dürfen mir das nicht verübeln, meine Herrschaften, ick rede halt, wie mir der Mund gewachsen ist."
Je finsterer es wird, desto stiller werden die Besucher. Manchmal hallt die Stimme wie von Ferne durch die Gewölbe. "Sehn Se die kleenen Nummern hier an der Wand? Da mussten wir von Hand die Flaschen stapeln. Die großen Ziffern dort drüben kamen später, für die Paletten." Paletten sind keine mehr in den alten Kellern. Aber überall die verstaubten Pfandflaschen mit rostbelegtem Porzellanverschluss. Vor dreißig Jahren ordentlich hier unten aufgestapelt, um während einer neuerlichen Blockade Berlins autark zu bleiben. Als Schulz auf dem Flohmarkt eine seiner Pullen sah und nach dem Preis fragte, stockte ihm der Atem. Das Ergebnis der Multiplikation war märchenhaft. "Und wat zahlste, wenn ick Dir ’ne jrößere Menge davon beschaffe?" fragte der Hausmeister. – "Wie viele denn?" wollte der Händler wissen. "Na, so 300 Millionen Stück." – Der Antiquitätenhändler ließ den Verrückten wortlos stehen.
Schulz bückt sich und zieht eine alte Limonadenflasche aus der Ecke. "Bei Schultheiss ham wir das ,Kotzwasser‘ genannt. Wenn du abends was gegessen und morgens eine Flasche aufgemacht hast, dann ist dir das Essen wieder aus dem Gesicht gefallen. Aber die orientalische Gestalt von dieser Flasche und der Funkturm da drauf, das war gut. Weil wenn man ’ne Rose oder ’ne Nelke reingesteckt hat, dann sah das ganz dekorativ aus."
Schulz hat nicht nur Bier gebraut, er hat Flaschen gestapelt, er saß als dritter Mann aufm Bock und hat Fässer ausgefahren. Und später, als der zierliche Braumeister bemerkte, dass ihm das Leben in den feuchten Kellern nicht gut bekam, machte er seinen Facharbeiterbrief als Hochdruckheizer und Maschinist. Damit wurde er "zum zweitwichtigsten Mann gleich nach dem Pförtner". 17 Jahre stand er am Kessel, schippte Steinkohle und hielt den Druck in der Dampfmaschine. Schultheiss produzierte eigenen Strom, der Versorger Bewag kam nicht nach. Außerdem hatte man immer noch die Blockade im Nacken. Den Dampf der Maschine benutzten sie zum Erhitzen der Sudpfannen beim Bierkochen. "Der Kessel war sozusagen das Herz des Betriebes." Schulz sorgte dafür, dass es nicht stillstand.
Je tiefer der Hausmeister hinabsteigt, desto weiter geht er zurück in der Geschichte. Ganz unten, im letzten Geschoss, verschwindet er in einem Gang und dreht an einem alten Lichtschalter. Finster ist es, nur langsam sickert aus zwei viereckigen Schächten in der Decke ein Rest des Tageslichtes in den letzten Keller. Da erscheinen auf den alten Mauern die phosphoreszierenden Pfeile, Zeichen einer düsteren Vergangenheit, Wegweiser, die zu den Ausgängen und ins Freie führten, als Tausende zwischen den feuchten Backsteinen Schutz suchten und ganze Nächte ausharrten. Nächte wie jene im Jahr 1945, als der Neunjährige mit seiner Mutter das erste Mal die Keller betrat, in denen er später sein ganzes Leben verbringen sollte.
"Feindliche Verbände im Anflug über Hannover/Braunschweig, ja, da dachteste, die sind jetzt über Hannover, aber dann sind hier schon die Eier gefallen. Und was für Eier. Wie das gerummst hat, sag ick Ihnen! Aber das sind noch Wände hier, drei Meter und mehr. Wenn Sie wüssten, was da für eine Tonnage draufliegt. 300 Millionen Flaschen!" Keiner kann sich vorstellen, was 300 Millionen Flaschen wiegen. Aber wie der kleine Hausmeister damals an der Hand seiner Mutter auf das Einschlagen der Bomben lauschte, das können sich alle vorstellen. Und wie Schulz nach dem großen Angriff am vierten Februar fünfundvierzig mit Muttern aus dem Brauereikeller kroch und das Haus in der Skalitzerstraße 72 zerstört war. Wie sie zwei Wochen unter der Hochbahn schliefen, im Februar. Wie sie in einer Kochstube im Parterre ein Quartier fanden, und später in der Gneisenaustraße, mit drei Parteien auf einem Korridor. "Mit einer Toilette, und dann ham wer eenen gehabt, der hat uff der Toilette Zeitung gelesen, da konnten Se sich das Gesäß zuhalten, bis Se überhaupt mal da druff durften."
Schulz erzählt, – "ick bin ja froh, wenn mir jemand zuhört, ick kann ja nicht immer die Wände vollquatschen!" Er erzählt im Zeitraffer – "weil ick will Sie ja nich uffhalten" – ein ganzes Leben. Wie er fünfunddreißig in der Wohnung in Neukölln "privat geboren wurde", wie er in der Schule bis zur großen Pause in der Schulküche arbeitete, "weil es da ein bisschen mehr als nur ’nen warmen Löffelstiel gab", und wie dann das einzige noch erhaltene Zeugnis, das Mutter dem Vater an die Front geschickt hatte, anstatt der Noten lauter Fragezeichen aufwies. Bis auf Musik. Da hatte er eine Eins. Obwohl er krächzte wie ein Rabe. Oder wie sein Vater für zwei Tage von der Front zu Besuch kam und seinen Bruder zeugte. Und wie sein Vater eines Tages nach dem Krieg betrunken nach Hause kam und rief: "Junge, ick hab ‘ne Lehrstelle für dich. Als Braumeister."
Nach dem langen Leben in den Kellern freut sich Schulz auf die Pension. Endlich kann er einmal ordnen, was "sich so kombiniert hat im Laufe der Jahre". Denn Schulz hortet die Zeit. Und all das Zeugs, das dazu gehört. Bei ihm geht nichts verloren. Seit dem Krieg sammelt er, seit seine Schwester sich in einen Amerikaner verliebte. Zuerst wegen der Schokolade, doch jetzt lebt sie in Los Angeles. Diese Schwester brachte damals ihrem kleinen Bruder amerikanische Comics mit, "Classics Illustrated", vergilbte Heftchen, die Literaten wie Edgar Allen Poe, Jules Verne und Charles Dickens in Bildgeschichten verwandelten. Schulz besitzt die komplette Sammlung aus den vierziger Jahren.
Seit diesen Comics konserviert er alles, was in seinem Leben eine Rolle spielte, alles, was rund um den Kreuzberg geschah. "Ich bin neugierig, das geb ich zu. Weil Wissen ist Macht, und mit der Schule war damals nicht viel!" Deshalb dieses verrückte Sammelsurium, das die Hausmeisterloge in ein Museum verwandelt: Emailleschilder, Bierkrüge, Münzen, Dosen, Flaschen, Banknoten, Münzwechsler von Straßenbahnchauffeuren...Unter Glas hat er den Orden seines Vaters aufbewahrt, den so genannten "Gefrierfleischorden" für das Überleben in der Winterschlacht an der Ostfront. Das Hakenkreuz hat Schulz abgedeckt. Damit will er nichts zu tun haben. Und Bücher, eine halbe Bibliothek. Nur fehlte ihm oft die Zeit zum Lesen. Jetzt wird er sie haben. Bücher sind wie Taschenlampen, damit durchleuchtet man den dunklen Lauf der Geschichte.
Außerdem wartet da noch das Motorrad. Seine große Liebe. Immer wieder bastelt er daran. "Die Stoßdämpfer von dem Seitenwagen, lachen Se nicht, aber die sind von ’ner Waschmaschine, mühselige Handarbeit, und Nirosta. Auch der Lenker hier, alles Niro!" Sogar die ledernen Satteltaschen hat er selbst zurechtgeschnitten, groß genug für zwei Fünfliterkanister. " Passen Se ma uff, hier, damit keen Wasser rinkommt. Alles Leder, alles genietet, alles Nierosta." Er klappt die Plane über dem Seitenwagen zurück, in dem der Sitz fehlt. Das rote Schiffchen ist leer, aber dafür passen jetzt exakt fünf Kästen Bier hinein. Das Motorrad ist ein Unikat. Ein Modell der Wehrmacht. Aber in Rot.
Stürze gehören zum Leben. "Na, aber selbstverständlich! Einmal hat mich der Elmar Pieroth uffgerocht, unser Wirtschaftssenator. Der hat mir die Vorfahrt genommen, uff de Potsdamer Straße. Det Schlimmste war der Seitenwagen, der Rahmen hat ’nen Knick gehabt, und die Kurbelwelle hatte ’nen Schlag. Auf 13000 Mark hat die Versicherung den Schaden taxiert. Den Minister hab ick ja nich gesehen. Ick lag ja auf der Piste. Der saß im Auto. Als ick die Augen wieder uffkriege, hab ick in ’ne Polizeimütze gekiekt. Die wollten mich gleich abtransportieren. Aber ick sag: Nu geh doch ma rüber und zieh den Zündschlüssel raus und dreh den Benzinhahn zu." So einer ist Schulz.

Frankfurter Rundschau - 2000
© Hans W. Korfmann

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