Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann


Wer wird kein Millionär?

Günther Jauch stellt zum 500. Mal seine wertvollen Fragen - ein Kandidat berichtet von vor und hinter den Kulissen

VON HANS W. KORFMANN


Welches war die erste Fernsehsendung der Augsburger Puppenkiste: War es der Star des Puppentheaters, "Jim Knopf", war es "Kater Mikesch", der "Kleine Muck" oder etwa "Peter und der Wolf"?

Mathias Flennert hatte sich zwei Tage lang auf die Millionenfrage vorbereitet. Jetzt ging es nur um 500 000 Euro, und schon wusste er nicht mehr weiter. Vor der Sendung hatte er noch einmal die Enzyklopädien durchgeblättert, über Wissenschaftler, Staatsmänner, Seefahrer nachgelesen - zum Glück auch über Thomas Cook, den die Eingeborenen auf Hawaii niedermetzelten, als er die Gewehre auf sie anlegen ließ. Dass die vier Zeilen über Kapitän Cook jetzt 125000 Euro wert waren, erschien Flennert keineswegs übertrieben. Flennert ist ein nüchterner Mensch. Der gerade arbeitslose Ex-Student mit dem langjährigen Faible für Quizsendungen und Trivial Pursuit war nicht dem Traum vom Reichtum erlegen, er hatte einen nüchternen Gedanken: "Leichter kann man nicht an Geld kommen."

Also bewarb er sich bei Günther Jauch, mehrmals rief er an und beantwortete die simple Frage, die ein Computer ihm am Telefon stellte, um in die engere Auswahlrunde zu gelangen. Mehrere Male wartete er vergeblich auf einen Rückruf, aber erst "beim zehnten Mal oder so" meldete sich leibhaftig ein Mitarbeiter der Sendung und stellte ihm fünf nicht mehr ganz so leichte Fragen. Flennert antwortete und der Mann sagte: "Sie hören von uns." Kein Wort darüber, ob seine Antworten nun richtig oder falsch gewesen waren.

Flennert fand das irgendwie fies. Aber Flennert ist ein nüchterner Mensch, er macht sich keine großen Illusionen. Deshalb verwunderte es ihn auch nicht, als er zusammen mit 29 anderen potenziellen Millionären vom Kölner Bahnhof von einer Dame mit hochgehaltenem Schild empfangen wurde wie ein Pauschalurlauber. Es störte ihn auch nicht, dass es mit dem Bus hinaus ins Industrieviertel ging, in dem man Betonmischer und Planierraupen verkauft und bestenfalls noch eine Ikea-Dependance erwartet, und dass die glamouröse Studiowelt zwischen Leichtbauhallen und die glitzernden Kuppel der Fernsehshow unter Wellblechdächern liegt. Dass er und die anderen 29 Kandidaten der drei Sendungen, die an diesem Nachmittag gleich hintereinander weggedreht wurden, in einem Wartezimmer wie beim Zahnarzt saßen und einander beäugten, dass es lange Gänge mit vielen Türen und graue Schreibtische geben würde, dass alles hatte er eigentlich erwartet.

Auch, dass Günther Jauch erst einmal an ihrem Wartezimmer vorüberhuschte und mit seinen drei Anzügen und seinen drei Krawatten in der Umkleide verschwand. Schließlich war jeder der möglichen Millionäre gebeten worden, gleich zwei Garderoben mitzubringen - für den Fall, dass er in der ersten Folge zwischen vier und fünf Uhr die entscheidende Frage nicht rechtzeitig beantwortete und dann in der nächsten Folge zwischen fünf und sechs noch einmal drankam. Da konnte man schlecht im gleichen Pullover auftauchen - schließlich vergingen Tage zwischen drei Uhr und vier Uhr an diesem Montag im Studio.

Für das kleine Büfett, das der Sender den Spielteilnehmern kredenzte hatte - "belegte Brötchen und kein Tropfen Alkohol" - hatte er sich dennoch nicht wirklich interessieren können. Und auch der kleine Bildschirm, auf dem gerade die ersten zehn Kandidaten Platz genommen hatten, war keine wirkliche Abwechslung. Im Gegenteil, einige standen auf und gingen sich auf dem Gang die Füße vertreten. Zumal die aktuelle Kandidatin schon seit dreißig Minuten auf dem Stuhl saß und immer nur am Quatschen und am Überlegen war. Die andern wollten schließlich auch noch drankommen. Sie scharrten mit den Füßen, die wusste "doch eh nix!", und ohne den netten Günther wäre sie schon längst draußen gewesen.

Der Kandidat hatte Jauch studiert

Flennert, einer, der im Grunde zur Prüfungsangst neigt, sagt, er sei "ganz cool gewesen" an diesem Montag. Er hatte die Sendung einfach schon zu oft gesehen, er hatte sie studiert, schon wissenschaftlich analysiert, bevor er mitspielte. Auch den Moderator hatte er sich genau angesehen und glaubte zu wissen, wann Jauch bluffte und wann nicht - zumindest vor dem Fernseher. Er lachte auch nicht, als der Jauch ihn augenzwinkernd angrinste und von einem "wunderschönen Samstagabend" sprach, obwohl draußen in der Realität ein regengrauer Montagnachmittag war.
"Jauch", sagt Flennert, "hat eine angenehm ironische Distanz zur Sendung". Und dennoch eine angenehme Nähe zu seinen Mitspielern. "Er verändert sich nicht, wenn die Kamera nicht mehr läuft", ist auch vor und nach der Sendung genau dieser nette Günther Jauch, den man aus dem Fernsehen kennt. "Und er ist geistreich dazu!" Flennert ist überzeugt: "Jauch sieht die richtige Antwort auf dem Bildschirm immer erst dann, wenn der Kandidat sich entschlossen und dessen Antwort eingeloggt ist."

So hatte man ihnen das im "Warm Up" auch demonstriert. Der so genannte "Warm Upper" führte die 30 Kandidaten nämlich erst einmal durchs Studio, damit sie während der Aufnahme nicht alle riefen: "Boa, ist das winzig!" Dann durften sie alle mal die sechs Knöpfe der Tastatur ausprobieren, die sie später würden drücken müssen, wenn es bei der "Ausscheidungsfrage" darum ging, wer um die Million mitspielen darf und wer nicht. Bei Flennert versagte das System in der Aufwärmrunde, aber als es Ernst wurde, funktionierte es. Jauch hatte gewettet, dass keiner die Antwort weiß, so kompliziert sei die Frage wieder mal formuliert. Doch Flennert kannte sich sogar in den stark gewundenen Gedankengänge der Millionärsautoren aus.
Das Einzige, was den ehemaligen Studenten der Theater-,Film- und Fernsehwissenschaften vielleicht ein wenig überraschte, war die Tatsache, dass zwischen der Begrüßung durch den freundlichen Moderator und dem Gang zum schicksalsträchtigen Stuhl ein Schnitt gemacht und plötzlich das Pult mit Jauchs Computer von zwei Arbeitern ins Studio getragen wurde. Flennert hatte geglaubt, es würde in einem von der Kamera unbeobachteten Moment lautlos aus dem Boden fahren.

Ansonsten war Flennert illusionslos. Als Günther Jauch die Kardinalfrage stellte, was denn sein Kandidat mit dem vielen Geld anfangen würde, falls er gewinne, da dachte Flennert nicht an Weltreisen, Häuser oder Cabriolets. Flennert sagte: "Ach, das brauch' ich erst einmal zum Leben." Jauch nickte frustriert. Dieser Flennert taugte irgendwie nicht zum Smalltalk. Der wollte nur die Million. Als Jauch ihn fragte, ob er als gestandener Berliner eigentlich wisse, wie viele Tonnen Hundenhaufen auf den Straßen der Hauptstadt lägen, begann er seinem Ärger über die Untiere freien Lauf zu lassen, und als der Moderator fragte, was er denn mit den vielen Hunden in der Stadt zu machen gedenke, entschied sich Flennert für die Evakuierung. Da wurden im tierliebenden Publikum die Buh-Rufe laut, und am Ende war der ganze smalle Talk umsonst, denn die Regie löschte die Stelle komplett. "Irgendwie habe ich nicht viel zur Unterhaltung beigetragen!", meint Flennert und grinst.

Aber er sorgte für Spannung. "Wenn Sie das wissen", rief Jauch, als er diese Frage auf seinem Bildschirm sah, "dann sind Sie genial". Der Sportkommentator grinste den wortkargen Berliner an: Wie viele Punkte können die Haltungsrichter beim Skispringen maximal vergeben? Doch Flennert war genial, Flennert hatte als Kind kein Skispringen im Fernsehen ausgelassen.

"Ein bisschen Glück" hatte er schon, und irgendwann blinkte dann eben eine halbe Million im Pappstudio auf. Die Frage zur Augsburger Puppenkiste! Flennert zog den letzten Trumpf aus der imaginären Tasche und rief den Telefonjoker an, aber auch der wusste es nicht. War es "Peter und der Wolf" oder war es "Der kleine Muck"? Der Kandidat aus Berlin hatte die richtige Antwort schon auf der Zunge, er wollte es schon sagen: Peter und der Wolf! Aber Mathias Flennert ist ein nüchterner Mensch, und er war gerade arbeitslos geworden.

Er entschied sich für eine Achtelmillion. Er hat es nie bereut. Obwohl: Er hätte zu gern noch die Millionenfrage gehört. Nur gehört. Man hört sie so selten. "Die fiel vielleicht fünfzehn Mal in den ganzen fünfhundert Sendungen!"

Der Gewinn auf dem Kontoauszug

Flennert fuhr zurück nach Berlin. Nicht sonderlich euphorisch. Noch im Zug erinnerte er sich daran, dass er erst dann einen Anspruch auf das Geld hatte, wenn die Sendung auch ausgestrahlt wurde. So war das bei allen diesen Sendungen und Sendern. Deshalb lebte der Gewinner "drei Wochen lang in dem ständigen Bewusstsein: Du hast das Geld noch nicht!" - Aber eines Tages erschien diese sechsstellige Zahl auf seinem Konto. Und das war vielleicht die einzig wirkliche Überraschung, dass drei Wochen nach seinem Besuch in der glitzernden Scheinwelt mit den billigen Pappkulissen tatsächlich echtes Geld auf seinem Konto landete. Geld, mit dem er leben konnte - bis heute.

? - 05?
© Hans W. Korfmann

zurück