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Zum Pokern ins Taj Mahal

Im amerikanischen Spielerparadies Atlantic City wurde einst "Monopoly" erfunden

von Hans W. Korfmann

Zweieinhalb Stunden dauert die Fahrt mit dem Bus von Princeton, New Jersey, ins 200 Kilometer entfernte Atlantic City. Das Ticket kostet 17 Dollar, hin und zurück. Jedes Mal, wenn jemand zusteigt, lacht der schwarze Chauffeur und entschuldigt sich für die Verspätung - er war noch nie in der Spielerstadt am Atlantik. Dazu verdiene er nicht genug. Aber die älteren Damen, die er auf den Parkplätzen vor den Einkaufszentren einsammelt, sie alle kennen den Weg.

Mit ihren gepuderten Bäckchen werden sie später im Kasino aussehen, als glühe noch eine alte Leidenschaft unter der faltigen Haut. Doch sie spielen aus Langeweile und weil sie sich gewöhnt haben an das Klimpern des Kleingeldes der Supermarktkassen.

Auf den letzten Kilometern wachsen die Reklameschilder in den Himmel, die Busse rollen auf dem mittlerweile dreispurigen Highway nebeneinander her - Leisure Tours, Adventure Tours, Fun Tours, Sun Tours. Überall am Straßenrand Schilder mit cash, jackpot und Million dollars. Und eine Kostprobe amerikanischer Lyrik : "When the express way ends, the fun begins."

Es hagelt, es stürmt, aber die Stadt glitzert wie ein Juwel, der Besucheransturm ist auch heute so gewaltig wie an jenem 26. Mai 1978, als das Resorts International Casino eröffnete. Um zehn Uhr morgens durchschnitten damals die Stadtväter das seidene Band, schon mittags hatten die Wechselautomaten keine Münzen mehr, zwei Stunden später ließ sich die Tür des Tresors nicht mehr schließen. Das Geld wurde in Wäschesäcke gestopft und in leeren Büroräumen abgestellt. James Crosby, Initiator und Eigentümer des ersten Kasinos von New Jersey, saß, vom Geldsegen überschwemmt, zurückgezogen in seinem Zimmer, der Arzt maß seinen Puls und ließ keinen Besuch mehr zu.

Niemand weiß, wie viel an diesem Tag in Atlantic City verspielt wurde, die Buchhaltung hatte versagt. Fest steht, dass in fünf Monaten 134 Millionen Dollar auf Crosby's Konto rollten - Weltrekord unter den Spielbanken. Heute ragen zwölf Kasinos in den Himmel, Luxushotels mit jeweils 1000 Zimmern, 20 Stockwerke hoch, nur das 13. fehlt auf der Liftanzeige, denn die 13 ist eine Unglückszahl.

Kaum rollt der Bus in den hoteleigenen Terminal des Trump Taj Mahal mit seinen 14 Busbahnsteigen, kramen die Damen in ihren Handtäschchen nach dem Ticket. Sie wissen, was gespielt wird. Eine Angestellte steigt zu und bietet gegen Vorlage des Fahrscheins einen Gutschein über 15 Dollar. Einzulösen in der Spielbank des Hotels. Jetzt kostet die Reise zum Taj Mahal nur noch zwei Dollar.

Das Portal des Trump Taj Mahal, eines von drei Etablissements der Stadt, die zum Imperium jenes Donald Trump gehören, der mit seiner mediengerecht arrangierten Scheidung und seinen angeblichen politischen Ambitionen die Schlagzeilen der amerikanischen Boulevardpresse füllt, lockt mit neun steinernen Elefanten. Den Spielertempel zieren stilgerecht Zwiebeltürmchen und Minarette, es gibt einen Drachenraum und einen Sultanspalast. Nur die überdimensionalen Kristallleuchter wurden von Deutschland übers Meer geschifft - Kostenpunkt: 14 Millionen Dollar. Das Taj Mahal ist der zweitgrößte Spielplatz der Welt, nur das MGM Grand in Las Vegas mit seinen 5005 Hotelzimmern ist größer.

Das Büfett bietet, was die Weltcuisine aufzufahren hat, kostengünstig, damit die Gäste sich nicht versehentlich auf der Suche nach Essbarem in das Nachbarkasino verirren. Für die Kinder gibt's einen Spielplatz, kid's fun, mit Computern, Turngeräten, kleinen, pädagogisch wertvollen Spieltischen und professioneller Betreuung - die Eltern können tagelang vor den Automaten zubringen, ohne dass die Kleinen sie vermissen würden. Und wer gewonnen hat, kann durch die kasinoeigenen Geschäfte bummeln, Schmuck kaufen, Designermode, Schuhe von Armani. Sollte das Gesicht zu zerknittert, die Frisur zerrauft sein von den vielen Niederlagen, dann wartet der Beautysalon, um die Fassade wieder in Façon zu bringen. Zur Reanimation des Kreislaufs dient sich ein Fitnesssalon an, für die Beruhigungszigarette stehen überall Aschenbecher mit strahlend weißem Sand bereit, eine seltene Ausnahme auf dem raucherfeindlichen Kontinent. Es gibt Kinos, Theatersäle, Restaurants, Bäder, Saunen und Amüsiersalons - nur keinen Grund, das Spielparadies jemals zu verlassen - solange man Geld hat.

Sollte das ausgehen, warten hinter der leuchtenden Vergnügungsmeile am Strand die schäbigen Häuser der Kleinverdiener. Auch sie wollen eine kleine Scheibe vom Filetstück New Jerseys und ködern die Verlierer mit schlecht klebenden Leuchtbuchstaben: Cash for Gold! An jeder Straßenecke sitzen die Händler auf zehn Quadratmetern und warten, dass das Pech des anderen zum eigenen Glück wird.

Einst wurden hier Souvenirs verkauft, Postkarten, Bademode, Sonnenhüte. 66 000 Einwohner zählte der Badeort in seiner Glanzzeit Anfang der dreißiger Jahre, heute leben noch halb so viele in der Stadt. Zwischen den Quadern des Reichtums liegen die Trümmerhaufen eingestürzter Gemäuer, 20 Meter hoch, kurz mit dem Bulldozer zusammengeschoben. Häuschen, drei Meter breit, drei Stockwerke hoch, trotzen zwischen mehrstöckigen Parkhäusern dem Lauf der Zeit, die Scheiben herausgebrochen, mit Pappdeckeln abgedichtet. Neben dem frisch geschliffenen Glasmonolithen der städtischen Bibliothek und dem Sozialamt wartet ein eingezäuntes Grundstück auf die Zukunft. Hier soll ein modernes Gesundheitszentrum emporwachsen für - so verspricht ein Plakat - "den Bedürfnissen der Menschen, die in Atlantic City leben, arbeiten oder es besuchen, entgegenzukommen". Doch das Gras wächst hoch in der eingezäunten Prärie.

Frauen fahren auf Dreirädern an den Automaten vor

Auch die Schöpfer der Kasinos haben viel versprochen, als sie 1976 die Politiker überredeten, das Strandbad in ein Spielhaus zu verwandeln. Arbeitsplätze für jeden in der von den Badegästen verlassenen Stadt. Die Sommerfrischler waren Anfang der sechziger Jahre mit den brummenden Silbervögeln nach Florida und zu den Bahamas weitergezogen. Und die Investoren hielten ihr Versprechen. Sie schufen mehr Arbeitsplätze, als die Stadt derzeit Einwohner hat: 40 000 Menschen werkeln in den 13 Kasinos. Dennoch ist immer noch jeder zehnte Bewohner Atlantic Citys selbst im Sommer arbeitslos.

8,5 Milliarden Dollar wechselten in den Spielhöllen und Hotels 1998 den Besitzer. In den Taschen der Einheimischen, die Hälfte von ihnen sind Schwarze, landen allerdings die geringsten Erträge des Milliarden-Monopolys. Auf den Treppenstufen des einstigen Atlantic City Councils, eines verfallenden Prachtbaus mit kunstvollen Säulen und Fenstersimsen, sitzen zwei Jugendliche und rauchen an einer Zigarette. Hoch über den Säulen ist in römischen Lettern gemeißelt: Unity, Charity, Fraternity und - denn wir sind in Amerika - Patriotism. Die zwei auf der Treppe spucken aus und pfeifen einem Mädchen hinterher. Dass sich der Grundbesitz der Stadt seit 1976 von 316 Millionen auf 6 Milliarden Dollar erhöht hat, dass der Quadratmeterpreis mit den Wolkenkratzern wächst, nützt den jungen Arbeitslosen wenig.

Dass sich alles ums Geld dreht an diesem Ort, ahnte schon 1929 ein arbeitsloser Seemann, der in Atlantic City gestrandet war. Charles Darrow verzeichnete die Straßen der Stadt auf einem viereckigen Spielbrett, gab ihr einen Bahnhof, eine Bank, ein Gefängnis und das Glückslos. 1935 verkaufte der Seemann die Rechte für sein Monopoly-Spiel an Parker Bros. Seitdem wurde das Spiel in 25 Sprachen übersetzt, 160 Millionen Kopien sind über die Ladentische in aller Welt gegangen - und noch immer tragen die bunten Felder der englischsprachigen Version die Straßennamen der Spielstadt.

Bereits die Vergangenheit glänzte mit Superlativen und ersten Plätzen: als in Atlantic City die ersten Postkarten der Welt fotografiert und verkauft wurden. Als man das Flugfeld für die klapprigen Luftschiffe erstmals Airport taufte. Als am Strand die ersten Badewächter aufs Meer blickten. Eine elegante Reiterin sprang mit ihrem Pferd vom 40 Fuß hohen Pier ins Meer. Elefanten gingen hier baden, man boxte gegen Kängurus, ließ Bären tanzen, fotografierte und poussierte, Atlantic City war ein Zirkus, die Attraktion Amerikas geworden. 1920 wurde auf der hölzernen Strandpromenade die erste Miss America vorgeführt - eine Prozedur, die sich auf dem ersten Boardwalk der Welt bis heute alljährlich wiederholt. Der Ort war berühmt, und die Berühmten liebten den Ort. Alle waren sie hier und traten sie auf: Marilyn Monroe, James Dean und Humphrey Bogart, sogar Al Capone ließ sich hier filmen. Glen Miller spielte im Café 500 auf, Elvis, Sammy Davis Junior und und und.

Mit alledem hatte wohl keiner gerechnet, als man 1854 die zuerst verspottete railroad to nowhere von Camden an den Atlantik und ein Städtchen mit knapp 700 Einwohnern baute. Zu dem öden Sandstreifen einer Halbinsel, die der Indianer dem weißen Mann für 10 Cent pro Hektar abgetreten hatte. 50 Jahre später war der Sandstreifen bekannt als the world's playground, Tausende promenierten an Sommertagen auf dem vier Kilometer langen Boardwalk. Inzwischen empfängt die Stadt mehr Besucher als das berühmte Las Vegas - 34 Millionen waren es im letzten Jahr.

Viele sind Spieler. Männer mit Cowboystiefeln und stilechtem Hut über finsterer Miene pokern im Wild West gegen Automaten. Im Caesar's dominiert die Weiblichkeit, übergewichtige Frauen fahren auf motorbetriebenen Dreirädern an den Automaten vor, im Einkaufskörbchen am Lenker den Pappbecher halb voll mit Silberlingen für den Münzschlucker. Vor den sich drehenden Bananen und Erdbeeren stehen die gepuderten Hausfrauen und werfen Quarter für Quarter in die Schlitze. Wenn die Lämpchen blinken und die Kasse klingelt, halten sie ihre Popcornbecher unter den Automaten und lassen es rasseln. Dann huscht ein Lächeln über ihre Gesichter.

Draußen steht plötzlich die Sonne am Himmel, es ist warm geworden außerhalb der klimatisierten Spielhallen. Von den 14 Bahnsteigen rollt jede Minute ein Bus ab, die Anzeige mit den Reisezielen New York, Philadelphia, Washington blinkt wie auf dem Flughafen. Neun Millionen Besucher bringen die Rundreisebusse jährlich zu den Kasinos, zu verlockenden Spartarifen. Der Busfahrer lacht. Und seine Beifahrerin lacht auch. "Man darf hier nicht herkommen, um zu gewinnen!", verrät sie, "man muss Lust haben am Spiel!" - "Und Geld, Ma'am!", sagt der Chauffeur und tritt aufs Gaspedal.

In den kleinen Straßen verlieren die vergessenen Hotels der goldenen Zwanziger ihren letzten Charme, knicken die geschnitzten Geländer der Balkone vor Altersschwäche ein. Da sitzen die Burschen auf den Treppen, drippeln gelangweilt mit dem orangefarbenen Ball am Zaun entlang und blicken müde zum Korb hinauf, weil sie ahnen, dass Michael Jordan längst unerreichbar ist für sie. Und noch weiter draußen, wo der Wind steht und die Sümpfe brüten, ist kaum noch ein Mensch, in der flimmernden Luft steht die Silhouette der Stadt wie eine Fata Morgana. Die gewaltige Fassade vom Caesar's mit den römischen Säulen aus Zement, die Zwiebeltürme des Taj Mahal ... - ein Disneyland, mit den Geldspeichern der reichen Onkels und den Häuschen Entenhausens - samt seiner ewigen Verlierer.

Die Zeit - 2000
© Hans W. Korfmann

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