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Herr Alonso ist jetzt auch ein Weltmeister

Von Hans Korfmann

Kantabrien liegt hoch oben im tiefen Norden Spaniens. Es ist ein kleines Land, das immer benachteiligt, übersehen und verdrängt wurde, das sich immer eingezwängt fühlte zwischen Asturien und dem Baskenland, trotz seiner fast dreihundert Küstenkilometer und seinen siebenundachtzig weißsandigen Stränden. "Man kann tatsächlich ruhigen Gewissens behaupten, daß Kantabrien die schönsten Strände im Norden Spaniens besitzt. Doch es grenzt noch immer an ein Wunder, wenn ein Deutscher Kantabrien überhaupt auf der Landkarte findet." Das findet zumindest Herr Alonso und zupft so lange an seiner goldenen Brille herum, bis sie wieder genau da sitzt, wo sie vor der Zupferei auch gesessen hat.

Andres Alonso ist bekannt in ganz Kantabrien. Er ist seit achtzehn Jahren im Amt, seit achtzehn Jahren um den Tourismus in dem Land am Golf von Biskaya bemüht, den oberflächliche Beobachter in vollkommener Ignoranz lokaler idiomatischer Ansprüche schlicht Atlantik nennen, nur weil es dessen Wellen sind, die in die Bucht schwappen. Dabei heißt der Golf an dieser Stelle genaugenommen sogar "Kantabrisches Meer". "Früher", sagt Herr Alonso, der stolz lächelt und sich persönlich angesprochen fühlt, wenn man ihn auf den gleichnamigen spanischen Rennfahrer anspricht, "früher studierte man tagelang die Karten, bevor man losfuhr. Heute studiert man nur noch die Preise in den Reisebüros."

Ryanair ist an allem schuld

Deshalb hat sich Herr Alonso achtzehn Jahre lang eigentlich vergeblich um sein kleines Land bemüht. Die Reise nach Kantabrien war eben teurer als ein Flug nach Mallorca. Jetzt aber scheint es auf wundersame Weise aufwärtszugehen. Die "Revolution im Tourismus", wie Herr Alonso das Wunder von Kantabrien nennt, ist indes nicht sein Verdienst. Die Revolution ist nur ein Nebenprodukt, das entstand, als Ryanair nach einem günstigen Flughafen in der Nähe Bilbaos suchte und dabei auf Santander stieß, die Hauptstadt Kantabriens. Und jetzt landen auch täglich Flugzeuge mit Deutschen mitten in Kantabrien. Wo allerdings Santander liegt, das wissen die Deutschen noch immer nicht. Denn Ryanair hat das Städtchen nur klein gedruckt und erwähnt vor allem das hundert Kilometer entfernte Bilbao mit seinem berühmten Guggenheim-Museum.
Santander hat als Kunstschatz allerersten Ranges nur Altamira zu bieten, und das auch nur in einiger Entfernung. Die niedrige Höhle im graubraunen Sandstein vierzig Kilometer von der Küste landeinwärts ist dafür kein modisches Zeitgeistprodukt, sondern eines der ältesten Kunstwerke der Menschheit. An ihre Decke malten vor achtzehntausend Jahren die Menschen der Steinzeit rostrote Pferde und dreitausend Jahre später Stiere, die so ähnlich aussehen wie die Stiere im berühmten Palast von Knossos auf Kreta - diese sind gerade einmal sechstausend Jahre alt. Noch etwas später, exakt im Jahr 1879, kroch Marcelino Sanz de Sautuola mit seiner Tochter Maria in die Höhle von Altamira, und wiederum hundertfünfundzwanzig Jahre danach hält diese Szene ein amüsanter Filmstreifen fest, der alle zehn Minuten im Museum neben dem legendären Fundort abgespult wird.

Höhlenmenschen im Scheinwerferlicht

Denn seit die ersten Gerüchte von Altamira über das Meer getragen wurden, sind so viele gekommen, daß man die Originale vor dem Ansturm all der dampfenden Neugierigen retten mußte und die Höhle kurzerhand in einem Museum nachbaute. Da tropft es nun aus Lautsprechern, und aus der Dunkelheit tauchen plötzlich wie aus dem Nichts drei Höhlenmenschen auf, klopfen mit Steinen auf Hölzer und geben steinzeitliche Urworte von sich, die irgendwie spanisch klingen.
Millionen haben Altamira inzwischen besucht. "Nur nach Santander kommen sie nicht", sagt Herr Alonso. Die Angereisten fahren anschließend nach Santillana del Mar, wandeln durch die steinigen Gassen des mittelalterlichen Dorfes, das im fernen siebzehnten Jahrhundert einmal so etwas wie die Hauptstadt der Region war. Erst 1799 konnte sich die dünn besiedelte Gegend als Provinz Santander vom reichen Burgos abnabeln, und 1817 durfte sich Santander dann Hauptstadt nennen. Des Volkes Mund jedoch nannte die Region auch in den folgenden hundertfünfzig Jahren schlicht Kantabrien, bis das grüne Land im Jahr 1982 endlich als autonome Region anerkannt und auch offiziell zu "Kantabrien" wurde. Die Kantabrer, so heißt es, seien ein kriegerisches, starrköpfiges Volk. Sie haben Charakter. Zehn Jahre hielten sie den Römern stand, und sie bauten die Schiffe, mit denen Spanien die Weltmeere beherrschte.

Keine Mädchen, kein Kino, kein Bier

Miguel, der Dolmetscher des Herrn Alonso, stöhnt. Er muß daran denken, wie sie mit der Schulklasse einmal im Jahr erst durch die Höhle von Altamira krochen und dann nach Santillana del Mar fuhren: "Das Dorf war tiefstes Mittelalter. Ein furchtbarer Ort: lauter Ställe und Viehzüchter und nur ein einziger Laden, in dem es, wenn man Glück hatte, ein Glas Milch und kantabrischen Käsekuchen gab. Und sonst nichts, keine Mädchen, kein Kino, kein Bier." Erst in den sechziger Jahren seien die ersten Franzosen in das Kuhdorf gekommen, und jetzt schaue nur noch eine Plastikkuh aus dem Fenster neben dem Käsegeschäft. Es gebe Restaurants und Cafeterias, aber keinen Bauern mehr. "Und fast alle Geschäfte gehören drei alten Viehhirten", sagt Miguel und sieht aus, als müsse er plötzlich darüber nachdenken, warum er damals eigentlich keinen Kuhstall kaufte.
Der touristische Glanz in Santillanas uralten Gemäuern ist neu und blitzblank poliert. Santander kann da nicht mithalten. Doch es besitzt auch seinen Charme, den patinösen Glanz alter Badeorte. Entlang den kleinen Straßen zwischen klassizistischen Villen mit englischen Gärten und kleinen Türmchen stehen die schmiedeeisernen, schon so oft mit soviel dicker Farbe überstrichenen Gaslaternen, während an der kilometerlangen Strandpromenade dicke, hundertjährige Palmen ein Spalier bilden. Auf kleinen Plätzen richten Bänke den Blick auf das Meer, himmelblau gekachelte Wege führen zu Brunnen und große Treppen hinunter zum breiten Strand mit dem Umkleidehäuschen und dem alten Steg und den Anglern und im Sommer den Badenden. Am Horizont gleiten riesige Containerschiffe vorüber, in der Bucht führen Segler, Fischer, Yachten, Kajaks und Schlauchboote ein Leben in friedlicher Koexistenz.

Ein Mythos wie Nizza

Das Idyll stören nur die Kühe, die auf ihren grünen Wiesen bis hinunter ans Meer grasen. Ihr bayerisches Gebrumme will nicht so recht zu den kreischenden Möwen passen, die, vom Wind hoch hinaufgeschleudert, auf die schlanke Sandsichel hinabblicken. Vierzehn Kilometer lang streckt sie sich in die Bucht von Santander hinein, so elegant, so lang, so breit, daß sich die Badenden darauf aus den Augen verlieren. Sie können, wenn es sie nach noch mehr Intimität verlangt, auch auf die vielen anderen Strände ausweichen, auf den Magdalenenstrand, den Strand der Jungfrau des Meeres, den Strand von Sardinero, auf La Camella, der wegen seiner zwei kamelhöckerartigen Hügel so heißt, oder La Bikini, der wegen anderer reizvoller Naturerhebungen diesen Namen trägt - nicht aus Zufall, denn schließlich war es in Santander, wo sich endlich auch die gottesfürchtigen Spanierinnen erstmals im bauchfreien Zweiteiler ins Wasser wagten.
Santander ist also nicht irgendeine Stadt am Meer, Santander ist ein Mythos wie Nizza oder Cannes. Achtzehn Jahre lang verbrachte der König seine Ferien im Magdalenenpalast, der auf einer hübschen Halbinsel vor der Stadt liegt. Die braven Santanderianer hatten ihm die Sommerfrische 1912 geschenkt. Sie nutzten ihre Chance, als im königlichen Urlaubsdomizil San Sebastian die Pest Einzug hielt, und lockten ihren König an die nicht minder schönen Strände von Santander. Schon im kommenden Jahr entstanden das große Spielkasino und die Pferderennbahn. Auch das strahlend weiße Hotel Real über der Stadt, dessen Bau der König mit fünfzigtausend Peseten unterstützte, entstand in diesen Jahren.

Das Geschenk des Königs

Denn der König zog Scharen neugieriger spanischer Urlauber hinter sich her, und die spanische Bourgeoisie, dem Regenten stets auf den Fersen, baute sich ihre Villen und Sommerresidenzen in der Nähe des Magdalenenpalastes. Santander war plötzlich berühmt, jenseits des Handelshafens entstanden beleuchtete Promenaden, Musikpavillons, Umkleidekabinen, Hotels mit ausländischen Zeitungen und Restaurants mit Kellnern in Livree. Am Strand von Sardinero legten längst keine Sardinenfischer mehr, sondern Segelyachten an. Es schien, als wäre die Rechnung mit dem geschenkten Palast aufgegangen, als könne sich Kantabrien endlich aus der Umklammerung von Baskenland und Asturien befreien.
Doch dann kam der spanische Bürgerkrieg und trieb König Alfons mit Kind und Kegel in die Flucht. Santander blieb allein zurück, das Schloß auf der Halbinsel verwaiste, 1987 verkaufte die königliche Familie das leuchtende Prachtstück mit seinen dreihundertfünfundsechzig Fenstern für neunhunderttausend Euro an die Stadt. Jetzt ist aus dem aristokratischen Hügel ein beliebtes Ausflugsziel geworden. Unten am Ufer haben sich ein Schiffsmuseum, ein Spielplatz und ein kleiner Zoo angesiedelt, und auf den gepflegten Wiesen unter einer seltsamen Baummischung aus Schirmkiefern, Eichen und Palmen liegen paarweise die Santanderianer und blicken aufs Meer oder schlafen. Es herrscht ein wunderbarer Frieden auf der Magdalenenhalbinsel, als seien die Santanderianer noch immer ungestört und unberührt von Fremden.

Herr Alonso lächelt

Dabei geht es, sehr zur Freude von Herrn Alonso, steil aufwärts, wie damals, als die Santanderianer dem König das Schloß schenkten. Dieses Mal haben sie keinen Palast für den König von Spanien, sondern nur einen Flughafen für den König der Billigflieger gebaut. Mehr als vierzig Millionen Euro investierten sie in Parayas und katapultierten die holprige Landewiese unter die Top ten der spanischen Flughäfen. Ryanair hat nach Frankfurt, London und Rom nun auch Mailand, Brüssel und Paris als Startrampen für Ausflüge nach Kantabrien ins Visier genommen.
Herr Alonso steht am Strand seiner Stadt und blickt in die Ferne. Er lächelt. Er muß jetzt viele Hände schütteln. Er macht es so ähnlich wie sein Namensvetter, der Weltmeister in der Formel 1. Der hat es ja auch geschafft.

Anreise: Ryanair (www.ryanair.de) fliegt täglich von Frankfurt-Hahn nach Santander, die Preise für eine Strecke beginnen bei vierzehn Euro. Air Nostrum (www.airnostrum.es), ein Tochterunternehmen der spanischen Fluggesellschaft Iberia, startet von acht Flughäfen Spaniens aus mehrmals täglich in die Hauptstadt Kantabriens. Ein Umsteigeticket von den wichtigsten deutschen Flughäfen über Barcelona oder Madrid nach Santander und zurück kostet derzeit ab 308 Euro. Eine preisgünstigere Option ist ein Direktflug mit Iberia nach Bilbao, hier beginnen die Preise bei 210 Euro. Weitere Informationen im Netz unter www.iberia.de oder telefonisch unter 01805/442900. Der Flughafen ist drei Kilometer von Santander entfernt, es verkehrt ein Bus ins Stadtzentrum.
Unterkunft und Essen: Einfache Zimmer in der lebendigen Altstadt sind noch günstig, sie kosten ab 20 Euro. Das Doppelzimmer im strahlend über der Stadt thronenden Fünf-Sterne-Hotel Real kostet ab 170 Euro (Tel.: 0034/942/272550, Web: www.hotelreal.es). Santander liegt am fischreichen Kantabrischen Meer, die Restaurants sind noch günstig und sehr gut. Angesichts der steigenden Besucherzahlen empfiehlt es sich, bald zu starten.
Informationen: Spanisches Fremdenverkehrsamt, Myliusstr. 14, 60323 Frankfurt, Telefon: 069/725033 oder 06123/99134, Mail: frankfurt@tourspain.es, Internet: www.spain.info.

Frankfurter Allgemeine Zeitung - 2005
© Hans W. Korfmann

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