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Im Winde klirren die Fahnen

Goethe kam als Dichter und Denker und blieb zehn Tage. Hölderlin kam für ein halbes Leben - als Pflegefall. Manchmal hat man den Eindruck, als bereite des Dichters Leid den Tübingern noch heute ein schlechtes Gewissen. Ein Ortstermin
VON HANS W. KORFMANN

In Leipzig stehen Doktor Faust und Mephisto aus Schokolade in den Schaufenstern der Konditoreien, Goethe sonnt sich in Bronze am Brunnen. Im Auerbachkeller verkaufen bezopfte Damen mit weißen Schürzen und Kniestrümpfen schlechtes Fleisch für gutes Geld an die zahlreichen Touristen, die trotz des Biers kein Schaffensrausch überkommen will wie einst den alten Dichter in der berühmten Schenke. Seit der Öffnung der Grenzen floriert das Geschäft mit dem Aushängeschild heimischer Dichtkunst, der Kohlenstaub auf den Dächern Leipzigs ist zu Goldstaub geworden, die Fassaden der Stadt glänzen wie neu.

Auch in Tübingen verbrachte einst ein Dichter 36 Lebensjahre, nicht im gepflegten Gasthaus bei Wein und Braten, nicht hofiert und beachtet, sondern geistig umnachtet, vergessen zwischen schmucklosen Mauern, sprachlos und kalt. Zeit seines Lebens stand der Glücklose im Schatten des großen Meisters, der dem "Hölderlein" höflich "ein gewisses Talent" versicherte, aber nie die ersehnte Audienz gewährte. Und noch immer sind die Tübinger nicht gut auf Goethe zu sprechen, der ihr Städtchen einst einigermaßen prosaisch als "übelriechendes Provinznest" bezeichnete, um das man besser einen Bogen schlage. Dennoch hat man an dem Haus, in dem der empfindsame Dichter im Jahre 1797 für zehn qualvolle Tage Quartier nahm, um sich mit seinem Verleger Cotta zu arrangieren, eine Gedenktafel angebracht. Denn in der selbsternannten "Stadt der Dichter und Denker" darf Goethe nicht fehlen. Die Koryphäen des geistigen Lebens sind die wichtigsten Stützen Tübingens irdischer Existenz, auf ihnen ruht die Wirtschaft der Stadt, ihrem Ruf und Ruhm folgen Doktoren und Studenten, sowie das Fußvolk der Touristen. Über eine Million Gäste empfängt Tübingen im Jahr.

Ein Viertel der Bewohner des friedlichen Städtchens zwischen den sanften Hügeln des Schwabenlandes besteht aus heranwachsenden Akademikern, 20 000 Studenten, die an schönen Tagen um den Brunnen vor dem Rathaus mit seiner mittelalterlichen Fassade lagern und schon mal Lieder zur Gitarre singen. Eine Handvoll zivilisierter Punks teilt sich die Stufen mit Ausflüglern, Familienväter halten die seltene Harmonie auf dem Marktplatz mit der Videokamera fest. Man zieht durch die Lange Gasse, die Kirchgasse, die Salzstadelgasse, über den Spaziergängern berühren sich in luftiger Höhe die Dachgiebel der Fachwerkhäuser. Die Stiegen klettern eng und steil vom Neêkarufer herauf, gastfreundlich tönt dem Wanderer im friedlichen Dorfe die Abendglocke.

Es weht Vergangenheit durch die perfekt restaurierte Altstadt, selbst C&A hat sich hinter altertümlichen Fassaden eingerichtet, "Modern Design" und das Bräunungsstudio "Sonneninsel" lauern hinter der hölzernen Treppe aus dem 14 Jahrhundert. In den Fenstern überm Kopfsteinpflaster arbeiten Hutmacher und Schuster, Kunsthandwerk wird ausgestellt, im Fachwerkhaus verbirgt sich McDonalds und das Internetcafé. Antiquitätengeschäfte und vor allem 26 Antiquariate und Buchhandlungen drängen sich in den Gassen der Altstadt. In den Auslagen die Werke ehemaliger Tübinger Studenten und Dozenten, von der Zeit vergilbte Seiten von Hegel, Schlegel, Mörike, Hauff - und von Friedrich Hölderlin.

Eine Straße ist nach ihm benannt und eine Schule. Neben dem Eingang zur Königlichen Universitäts Bibliothek aber sind neben Homer, Shakespeare und Dante die Köpfe von Goethe und Schiller und Uhland in den Stein graviert. Für Hölderlin war kein Platz im deutschen Triumvirat, noch immer steht er im Schatten der Großen. Auch das Hölderlindenkmal im Botanischen Garten scheint in Vergessenheit geraten, moosüberwachsen, mit roter Farbe übergossen steht der Dichter am Wegesrand wie eine antike Statue im griechischen Gewand. Mit dem fehlenden Arm, aus dem ein rostiger Eisenhaken ragt, Zeuge eines mißlungenen orthopädischen Eingriffes. Auf dem Stadtfriedhof weist ein hölzernes Schild den Weg zum stillen Grab, ein billiger Sockel ohne Büste, einige Zeilen des Verstorbenen, auf der Rückseite ist eine Leier in das Betongemisch geritzt. Drei Geraniensträucher wurzeln zwischen dem Efeu, keine Vase, keine Blumen, niemand. Man macht nicht viel Aufhebens um die tragische Dichtergestalt - fast scheint es, als schäme man sich für sein Schicksal, als spüre man Schuld, als laste noch immer ein schlechtes Gewissen auf den Tübingern, unter denen dieser Hölderlin nie heimisch wurde.

Auf dem Neckar aber endlich erinnern 32 Schwäne an ihn und tunken ihr Haupt ins nüchterne Wasser, hölzerne Kähne mit Touristen gleiten den Neckar entlang, der Gondoliere der poetischen Stocherkahnfahrt deutet zum Turm hinüber: Da stehen die Mauern sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen.

Mit dem Rücken noch an die Stadtmauer gelehnt, mit den Fenstern zum Fluß jedoch schon außerhalb der menschlichen Einfriedung, steht jener Turm, in dem Hölderlin die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte. Stille herrscht dort oben, im Zimmer des Dichters fällt die Sonne auf einen Blumenstrauß, der auf dem Dielenboden steht. Zwei Stühle sind da noch im leeren Halbkreis seiner zweiten Lebenshälfte, den der Gefangene, so sagt man, ruhelos und mächtigen Schrittes durchwanderte. Vier jener letzten Gedichte sind an der kahlen Wand zu lesen, jene Verse, die immer wieder Frühling, Sommer, Herbst und Winter thematisieren, Jahre, die draußen vorüberzogen - 36 Jahre. Da steht der Besucher einen Augenblick nur am Fenster über dem Neckar, wo ungestört der Mensch des Jahres Reiz betrachtet, sieht einen Augenblick nur hinaus und ahnt doch schon die Weite und die Zeit, . . . Das Feld ist kahl . . . das weite Tal ist in der Welt hinausgedehnet . . . auf ferner Höhe glänzet - der blaue Himmel nur. Heute steht eine hundertjährige Weide vor dem Haus und taucht malerisch die Äste in den Fluß, auch die Platanen am Ufer gegenüber standen damals noch nicht, der Blick ging übers Land. Nur der Kirchturm war schon, still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken in die Gegenwart herüber. Auch die dunkle Stadtmauer steht unverändert, mit dem schmalen Landstreifen und dem Zwetschgenbaum zwischen Fluß und moosbewachsenem Steinwall. "Hier", erzählt eine junge Frau der Hölderlin-Gesellschaft den vier Besuchern, "im Garten des Schreinermeisters und den Weg am Fluß entlang bis zur Brücke, konnte der Dichter spazierengehen." Jenseits der Mauer. Die Stadt hat er nie wieder betreten. "Als wie allein ist er im andern, weiten Leben - wo rings der Frühling grünt, der Sommer freundlich weilet - bis daß das Jahr im Herbst hinuntereilet, und immerdar die Wolken uns umschweben", zitiert sie mit einem leisen Zittern in der Stimme.

Hinter Glas liegen die Faksimiles, Briefe, Notizen, Gedichtentwürfe in hastiger Schrift, eine Flut von Worten und ein Bildersturm, der immer wieder die Enge im Korsett des Reimes sprengt und den emsigen Verseschmied Goethe ein Jahrhundert hinter sich läßt. Daneben Belege eines ärmlichen Lebens, Zeitdokumente, Zeichnungen der Tübinger Landschaft, Porträts, Banales, weniges nur. Doch durch die Tragik des Schicksales rückt das Wenige dicht und eindrucksvoll zusammen. Selbst die penible Rechnung des Schreinermeisters Zimmer, der Hölderlin die letzten Jahre in Pension nahm, berührt die Besucher im Turm. Denn die, die hierherkommen, kennen seine Geschichte. Und sie kommen, als erwiesen sie ihm die Ehre.

Abseits der Stille, unten im Hölderlinhaus, serviert man indessen spanischen Wein und Tortillas. An den Wänden kämpfen Torreros gegen Stiere, der Flamenco ist laut und das Lachen der Studenten. In der Ecke der Stube wendet Hölderlins Relief den Blick ab.

Auch für Frau Joost, die im obersten Zimmer des Turmes zur Miete wohnt, sind die alten Gemäuer nicht Gedenkstätte, sondern Lebensraum. Einmal im Jahr, am 6. Dezember, kommt sie herunter und überreicht den Museumsangestellten einen Schokoladennikolaus. Selbst wenn es den Dichter in Schokolade gäbe, sie würde dem Heiligen Nikolaus treu blieben. Hölderlin interessiert sie nicht. Und auch im Frauenbuchladen Thalestris gleich neben dem Hölderlinhaus ist nicht eine Zeile des männlichen Dichters mehr aufzufinden.

In Vergessenheit geraten wird er dennoch nicht. Selbst das Liebeswerben des 21. Jahrhunderts zitiert in seinen schmalspurigen Kontaktanzeigen auf der Suche nach einem neptunartigen Mannesbild hölderlinsche Verse, vor 200 Jahren geschrieben: denn "am stechenden Bart rauschen die Küsse!" So hat der Mißachtete wohl doch die viel besungene Unsterblichkeit erlangt. Im Gästebuch, das im Turm ausliegt, erweist man ihm die Ehre in allen Sprachen, griechische, hebräische, sogar japanische Schriftzeichen sind darunter. Zitate aus seinen Gedichten füllen ganze Blätter. Auf einer Seite hat der Kugelschreiber ein blutendes Herz gemalt, so wie Verliebte es in Bäume ritzen, und darunter steht, in jugendlicher Hast und Leidenschaft dahingekritzelt: Hölderlin, I love you! - Corinna, 23. März 1998.

Goethe, wenn er dies läse, würde sich vor Neid im Grabe wälzen.

Der Tagesspiegel - 1998
© Hans W. Korfmann

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