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Pokern auf dem Schuldenberg

 
 

Von Athen führt eine Seilbahn hinauf zum Párnitha-Nationalpark. Doch die meisten Griechen kommen nicht zum Wandern. Sie suchen das Glück im benachbarten Casino.

Von Hans W. Korfmann

Fanis Papakostas ist kein Grieche. Er hat nie getrunken, nie geraucht, sogar den türkischen Mokka, den die Griechen griechischen Mokka nennen, hat er aufgegeben. Er flucht nicht und ist nie zur See gefahren. Sogar die Liebe zum Meer fehlt ihm. Wenn der Himmel blau ist und wenn auch Maria gerade Zeit hat, dann ziehen die zwei ihre Wanderschuhe an und fahren zum Fuß des Párnes. Nicht zum Parnass, dem Göttersitz bei Delphi, um den sich einst griechische Propheten zum Belauschen der Götter und anschließendem Orakeln versammelten, sondern zum Párnes von Athen. Dem »Párnitha«, wie die Griechen sagen.

Knapp drei Stunden dauert der Aufstieg. Die meisten Nachkommen des berühmten Nachrichtenboten von Marathon würden keinen einzigen Höhenmeter zu Fuß gehen, sagt Fanis. »Wenn man einem Griechen erzählt, dass man hier hinaufgelaufen ist, statt die Seilbahn zu nehmen, die noch dazu keinen Cent kostet, dann schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen.«

Früher parkten auch Maria und Fanis ihr Auto an der Talstation des »Teleferik«. Von hier aus fuhren sie dann mit der Gondel auf den Gipfel und tranken Kaffee. Aber Fanis fühlte sich nicht wohl unter all diesen hundertprozentigen Griechen, die vor dem Einstieg rauchten, nach dem Ausstieg rauchten. All diese nervösen Spieler, die mit ihnen zum Casino Mont Parnes fuhren, hoch über der Stadt am Meer. »Die gucken nicht mal aus dem Fenster! Die starren auf ihre Schuhe und schweigen.«
Wenn die Spieler doch einmal reden, dann meistens über das Glück. Also über das Geld. Oder sie diskutieren über das neue Gesetz, das in Griechenland künftig das Aufstellen einarmiger Banditen im öffentlichen Raum erlauben soll. »Um noch mehr Steuergelder zu kassieren!«
Und sie debattieren über das Gerücht, der griechische Staat wolle seine Anteile verkaufen, die er noch immer am Casino auf dem Berg hält.

Fanis kichert. Ihm ist es egal, wem das Casino gehört. Fanis ist kein Grieche, er raucht nicht, trinkt nicht, spielt nicht. »Ich war oft auf dem Berg, nur im Casino war ich nie.«
Durch die Panoramascheiben der Seilbahn, die vor wenigen Jahren komplett erneuert wurde, reicht der Blick bis zum Saronischen Golf, nach Piräus, bis zur Akropolis inmitten des weißen Häusermeers von Athen. Fanis und Maria kommen ins Schwärmen, erzählen von verwilderten Ziegen, die über die weißen Steinflure zwischen Kiefern und Tannen springen. Aber die Spieler wollen nur eins: schnell nach oben. In kurzen Abständen schwingen sich die Kabinen der Seilbahn den Berg hinauf, still steht das Wunderwerk österreichischer Seilbahnbaukunst nie. Früher, als noch die alte Bahn verkehrte, war das anders. Denn der Párnes ist ein echter Berg, ein Gipfel, an dem jedes Unwetter hängen bleibt, und wenn es zu windig war, wurde der Betrieb eingestellt.

Seit den Olympischen Spielen 2004 kann das nicht mehr passieren. 24 Stunden am Tag drehen sich die Räder der neuen Bahn ebenso wie die Glücksräder des Casinos. Sie suggerieren, dass das Glück ständig verfügbar ist. Und Glück können die Griechen gut gebrauchen. In Griechenland gibt es nur noch ein Thema: die Staatsverschuldung. Um wenigstens der privaten Insolvenz zuvorzukommen, stehen für die Athener im Casino Mont Parnes 1500 Spielautomaten und 110 Spieltische bereit, Mindesteinsatz 5 Euro, Maximaleinsatz 1800 Euro. »Es gibt Leute, die fahren jeden Tag um die gleiche Zeit hoch und um die gleiche Zeit wieder herunter. Als gingen sie zur Arbeit«, sagt der Inspektor der Talstation. Es war schon lange nicht mehr so viel los. »Die Griechen sind eben Spieler. Wenn sie Geld haben, spielen sie. Und wenn sie keins haben, spielen sie erst recht.«

Sichere Gewinne fahren nur die Taxifahrer ein, die an der Talstation warten. Wer gewonnen hat, ist spendabel. Aber selbst mit den Verlierern lassen sich Geschäfte machen: Die Fahrer halten für diejenigen, die noch mal hochmüssen, kleine Geldbündel im Handschuhfach bereit. Die Zinsen für die Privatkredite sollen den deftigen Kilometerpreisen um nichts nachstehen.

Acht Minuten braucht die Gondel bei Normalgeschwindigkeit. Aber an schönen Wochenenden, wenn die Athener auf die Idee kommen, das kostenlose Vergnügen einer Seilbahnfahrt mit einem Ausflug in die Natur zu kombinieren, und wenn am Nachmittag dann noch die Spieler hinzukommen, schaltet der Steuermann in der Basisstation auf »Full Speed«, wie er sagt, »und dann ist es besser, wenn man schwindelfrei ist«. In fünf Minuten sind die Gondeln 1055 Meter über dem Meer, aber kein Messingschild kündet beim Ausstieg von der stolzen Höhe, kein Souvenirladen mit Wanderabzeichen und hölzernen Spazierstöcken. Kein steiniger Pfad empfängt den Wanderer, sondern ein ausgerollter Teppich.

Denn der einzige Weg in den Nationalpark führt durch die Gänge des Casinos, und unter die Naturfreunde mischen sich Hostessen in Stöckelschuhen und Croupiers in Livree. Und die Spieler: Männer in Cowboystiefeln, Rentner ohne Rente, albanische Arbeiter, die ihr schwer verdientes Geld verlieren, weil einer von ihnen einmal gewonnen hat; mit Schmuck behängte Frauen, Männer, deren letzte Leidenschaft das Spiel ist. Sie alle schreiten durch die Korridore, während über Lautsprecher die Stimme von Las Vegas, Frank Sinatra, erklingt.

Trotz der sonoren Stimme des Entertainers, dezenter Beleuchtung und lässiger Croupiers in allen drei großen Spielhallen: Im Schein der niedrigen Lampen über den Spieltischen wirkt die Stimmung gereizt. Gebannt verfolgen Roulettespieler den Lauf der kleinen Schicksalskugel, die unberechenbar über die Stege hüpft, Frauen starren auf die rasenden Räder des Spielautomaten »King Kong Cash«, kauen an lackierten Fingernägeln und füllen reihenweise Aschenbecher. Jacketts, Kostüme und Gesichter sind zerknittert, stundenlang sitzen stumme Verlierer an der Bar und schauen zu den Tischen herüber, an denen sie vor einer halben Stunde ihr ganzes Geld gelassen haben. Trotz Zigarren, Whiskey und elegantem Teakholz herrscht im Casino Tristesse.

Früher war das anders. Vor 50 Jahren, als es Griechenland noch besser ging und Präsident Karamanlis die erste Seilbahn nebst luxuriösem Hotel mit Pool und Dachterrasse inmitten des Waldes eröffnete und ihn zum Nationalpark beförderte, kostete die Fahrt mit der Seilbahn noch 50 Drachmen. Damals war der Berg den Griechen etwas wert. Zehn Jahre später wurde aus dem Hotel bei der Gipfelstation ein Spielcasino. Statt der Ausflügler kamen jetzt Tankerkönige und Bankertöchter auf den Berg, der seine »goldenen Jahre« erlebte. Doch die Spielsucht der Griechen muss die Götter erzürnt haben: 1999 ließen sie die Erde erbeben, für einige Stunden standen sogar die Räder des Glücksspielhauses still.

Zwar entstand wenig später bei Thrakomakedones, gar nicht weit von der Talstation des Teleferik, das Olympische Dorf, 16000 Sportler aus aller Welt siedelten am Fuß des Berges. Doch der Zorn der Götter war noch nicht verflogen: Drei Jahre nach der Olympiade brach Feuer am Gipfel des Athener Hausbergs aus. 56 Hektar des Nationalparks lagen in Asche.

Einzig das Casino hat überlebt. »Mont Parnes, Wiederbelebung eines Mythos – die Geschichte geht weiter«, verkünden die Betreiber trotzig auf Plakaten zum 50-jährigen Bestehen. Doch draußen schweift der Blick des Wanderers über einen kahlen Bergrücken, übersät von den bleichen, gestürzten Körpern entrindeter Bäume. Die verkohlten Stämme, deren kurze Aststümpfe wie abgehackte Gliedmaßen über die verbrannte Erde hinweg auf grüne Wälder in der Ferne weisen, sind zu Mahnmalen geworden. »Schau, da drüben«, sagt Fanis zu Maria und deutet auf ein rotes Haus, das auf dem gegenüberliegenden Berggrat zwischen den Bäumen auftaucht. »Das ist Flabouri, da haben wir Spanakopita gegessen. Und da, durch dieses Tal da, sind wir heraufgekommen – mitten durch den Wald.«

Es ist noch immer eine stolze Landschaft, der weiße Hügel vor der Kulisse dunkler Wälder im Hintergrund. In den Tälern und auf den Bergen ringsum stehen unversehrte Tannen. Nur der Párnes scheint von allen guten Geistern verlassen. Doch da, »Maria, da drüben!«, taucht tatsächlich ein Hirsch auf. Majestätisch, in aller Ruhe, zupft er am zarten Gras, das im Sonnenlicht zwischen den Baumstümpfen sprießt. Vielleicht geht die Geschichte doch noch weiter.

Anreise: Ein kostenloser Bus des Casinos zur Talstation der Seilbahn startet um 14.30 Uhr vor dem Hilton Hotel, ein weiterer um 18.15 Uhr ab Omonia und ein letzter um 20.15 Uhr ab Piräus. Nähere Auskünfte bei Regency Casinos, Tel. 0030-210/614 98 00

Casino: Das Restaurant mit großer Terrasse und Blick auf Athen ist an Werktagen abends und an Wochenenden ganztägig geöffnet. Weitere Infos unter www.regencycasinos.gr

Wandern: Eine gute Wanderkarte für den Párnitha gibt es in der Stoa Arsakio Nr. 6a in Athen, Tel. 0030-210/32 18 04, zusätzliche Informationen unter www.mountains.gr
In der Berghütte von Flabouri sind 40 Schlafplätze eingerichtet. Nähere Auskünfte beim Acharnes Alpinclub, 0030-210/246 15 28 und 246 42 22, www.eosacharnon.gr

Die Zeit - 25.7.2011
© Hans W. Korfmann

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