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Kein Platz für Wehmut

Im Hafen von Piräus

Von Hans Korfmann

Günter Jauch, Deutschlands "beliebtestem Schwiegersohn", der Millionen unters Volk verteilt, wäre das wahrscheinlich eine 5000 Euro-Frage wert: Ist Piräus A: eine Pirateninsel, B: ein Distrikt von Athen, C: eine griechische Hafenstadt oder D: der Hafen von Athen? Die meisten würden vermutlich auf "D" tippen. Und hätten verloren.
Zu verdanken hätten sie die Niederlage wahrscheinlich Melina Mercouri und diesem gefräßigen Ohrwurm vom sehnsüchtigen "Mädchen aus Piräus", das am Hafen steht und wartet "auf die fremden Schiffe aus Hongkong, aus Java, aus Chile und Schanghai."
Und im Grunde hätten die melancholische Sängerin und Jauchs Gäste auch Recht: Wer ins Taxi steigt und Piräus sagt, landet am Hafen, wer in die 100-jährige Metro nach Piräus steigt, landet unmittelbar vor den 4500 Meter langen Kaimauern. Piräus macht nicht den Eindruck, eine eigene Stadt, sogar die Hauptstadt einer gleichnamigen Präfektur mit mehreren Inseln und einer halben Million Einwohnern zu sein. Piräus ist längst verschmolzen mit diesem Koloss von Athen, zum Wurmfortsatz der berühmten Stadt geworden, zur Unterstadt der Oberstadt mit den herausgeputzten Säulen.
Dabei war es Piräus, der südlichste Zipfel Attikas, auf dem vor 4600 Jahren die Minoer erste menschliche Spuren in der Gegend hinterließen. Ein halbes Jahrtausend vor Christus ließ Themistokles die ersten Kaimauern in die geschützte Bucht bauen und umgab Piräus mit einer Stadtmauer. Gleichzeitig aber verband er die beiden Orte durch einen sechs Kilometer langen Wall, in dessen Schutz die Waren vom Hafen in die Stadt transportiert wurden. Piräus wurde zum brackwasserumspülten Hafen- und Handelsviertel, in das Sokrates nur selten die Sandale setzte. "Wie viele Dinge gibt es doch auf unserer bunten Welt, die ich nicht brauche", soll er, seinen Bart zupfend, beim Anblick der überladenen Schiffe gesagt haben. Thukydides sah die Dinge pragmatischer und weniger spöttisch: "Aus allen Ländern kommt alles genau hierher!" Im Gegensatz zum Philosophen ahnte der Vater der Geschichtsschreibung, welche Bedeutung der Hafen für Athen hatte. Und auch die Piräoten ahnten es und entwickelten ihren Stolz, dessen Relikte noch in den deutschen Schlagern des 20 Jahrhunderts zu finden sind. "Ich bin ein Mädchen von Piräus, und wenn eines Tages mein Herz ich mal verlier', dann muss es einer sein vom Hafen, nur so einen Burschen wünsch' ich mir."
Piräus war freilich nicht vom Glück verfolgt. Nach den sonnigen Zeiten des Altertums durchlebte es eine finstere Epoche. In den ersten Jahrhunderten nach der Geburt des christlichen Heilsbringers war die Gegend hellenenleer, von Piraten und Venezianern belagert, die "Porto Leone" und "Porto Draco" auf ihre Seekarten schrieben, den Hafen von Piräus "Asiatischen Hafen" oder "Löwenhafen" tauften, benannt nach einer marmornen Skulptur, die später in den Hafen von Venedig verschleppt wurde, wo sie bis heute der Schönsten der Adriastädte zur Zierde gereicht. Piräus dagegen blieb schmucklos zurück, nur zaghaft kehrten die Griechen nach dem Abzug der Türken an ihren Hafen zurück. 22 Einwohner zählte Piräus noch im Jahr 1827, und erst, als Athen Griechenland Hauptstadt wurde, begann der Sturm auf das "schlammige Dorf".
Heute ist Piräus ein Häusermeer. Und der Regierungssitz der größten Handelsflotte der Welt. Mehr als 800 Reeder dirigieren von hier aus über 3000 Schiffe, die Millionen von Gütertonnen über die Welt verteilen und den Eignern 30 Millionen Euro einfahren. Rechtzeitig zu den Olympischen Spielen entstanden für zwölf Millionen Euro neue Liegeplätze und weitere 900 Meter Kai. Sokrates käme aus dem Zupfen seines Bartes nicht mehr heraus. Piräus steht nicht mehr am unrühmlichen Ende des Verdauungstraktes einer Millionenmetropole, sondern ganz am Anfang. Ohne Piräus wäre Athen vielleicht nichts als einer jener vielen kahlen und namenlosen Hügel Attikas.
Piräus aber ist nicht nur das Tor zur Welt, sondern auch das Tor zu 200 lichtüberströmten griechischen Inseln, einem Traumland, das nicht nur Altphilologen und Maler, sondern bald auch Touristen eroberten. In den 70er Jahren tauchten die ersten Rucksackträger im Hafen auf und packten die Gitarren aus. "Ein Schiff wird kommen und meinen Traum erfüllen und meine Sehnsucht stillen, die Sehnsucht mancher Nacht..." Sie kamen barfüßig, saßen auf dem Boden, sangen Dylan-Songs und stießen süße Rauchwölkchen aus kleinen, silbernen Pfeifen. Es waren die Zeiten, als Namen wie Afghanistan oder Nepal, Kathmandu oder Goa noch nach den Märchen aus 1001 Nacht klangen, und als es in den Kneipen von Piräus noch die verdreckten Stehtoiletten mit dem Wasserschlauch gab - Erben aus der Zeit der türkischen Besatzung und Vorboten des paradiesischen Orients.
Heute treffen sich nur noch wenige am Hafen. Piräus sehen die Touristen meist nur noch aus einer Höhe von 30 000 Fuß. Kein David Bowie sitzt auf dem Weg nach Patmos ungeduldig im einzigen Kafenion am Hafenbecken, wo es zu jedem Schnaps gebratene Sardellen gab, keine berühmte Schauspielerin wartet mehr auf diese riesigen Portionen Joghurt mit Honig, die der chronisch schlecht gelaunte Wirt den vergnügungssüchtigen Hippies auf den Tisch knallte, als wäre es Hafergrütze. Keine dicht wie in Woodstock nebeneinander ausgerollten Schlafsäcke auf dem einzigen Stück Rasen weit und breit, keine zwielichtigen Gestalten in der Dunkelheit, keine kreisenden Polizeistreifen, keine indischen Röcke und keine Jeans mehr mit Schlag. Kein Galaktabouriko, kein Kadaifi, kein dicker, griechischer Kaffee, sondern Eiscreme und Espresso, Table Water und Tequila serviert der stets lächelnde Wirt der Neuzeit seinen Kunden, die mit Wohnmobilen, GPS und Klimaanlagen ausgerüstet in den dicken Bäuchen der Fähren verschwinden, um die griechischen Inseln vom Autositz aus zu erkunden. Auf Deck, unter dem weiten Himmel über dem Meer, schläft heute niemand mehr, und die Zeiten der Lieder sind lange vorüber.
Piräus ist modern geworden, es stinkt nicht mehr nach Fisch und Öl und Teer, nicht mal nach Pisse in den schattigen Ecken. Kleine Plastikhäuschen mit der bekannten Aufschrift "Toi Toi - Sanitärsysteme" flankieren den Weg in die europäische Zukunft. Keine betrunkenen Seemänner, die alles Mögliche aus aller Welt erzählen, keine Frachter mit neugierigen Indern, für die Piräus das Tor zu Europa war. Sogar die ein- und ausfahrenden Schiffe, die so dunkel und sehn- und fernsüchtig grüßten, dass man sie bis zur Akropolis hinauf hören konnte, gleiten jetzt lautlos ins Hafenbecken.
Geblieben aber sind die schrillen Pfiffe des Schiffspersonals beim Einlotsen der Lastwagen oder der Sinti mit den zu Türmen aufgestapelten Stühlen auf ihren Pritschenwagen. Und geduldig warten noch immer die Sesamkringelverkäufer am Kai, die Handwagen mit Nüssen und Kürbiskernen und Gaslaternen, die glücklosen Losverkäufer und die indischen Bauchladenträger mit ihren Feuerzeugen und Kartenspielen. Gelangweilt warten noch immer die Lkw-Fahrer mit ihren Rosenkränzen in einer schattigen Ecke, die Zigeunerinnen mit den Blumen im Haar und ihren Kindern, die von der Stadt ermüdeten Insulaner mit ihren geschnürten Pappkartons und den Kanistern auf dem Weg zurück auf die Insel, und die schwarz gekleideten kretischen Frauen mit ihren blauen Plastiktüten.
Geblieben ist die Hektik der letzten Minuten vor dem Ablegen, die quietschenden Reifen der verwegenen Athener Taxichauffeure, die das Schiff noch im letzten Moment erreichen, und die jungen Athenerinnen auf ihren Motorrollern, die sich mit wehendem Haar durchs Chaos schlängeln. Geblieben sind auch die verlorenen Gestalten jener, die klein und verlassen am Kai zurückbleiben, weil sie den Hafen erst erreichten, als sich die große Laderampe bereits langsam, doch unaufhaltsam vom Kai abhob. Das alles gibt es noch, und die Möwen, den Wind, und das Meer, die Schuhputzer, die Straßenkehrer, die Angler hinten am letzten Pier, und manchmal ein Mädchen auf der Mauer, das in die Ferne schaut und denkt: "Ein Schiff wird kommen und das bringt mir den einen, den ich so lieb' wie keinen und der mich glücklich macht."
Vielleicht wird er im August dabei sein. Im August werden viele Schiffe Piräus ansteuern. Sie werden Bug an Bug liegen, Fahne neben Fahne hissen, und sie werden aus allen Winkeln der Welt kommen. Sie werden die Bucht von Piräus so dicht bevölkern wie die Kriegsschiffe die Ölgemälde der Seeschlachten im Marinemuseum von Piräus. Schwimmende Shuttle werden Sportinteressierte von den Urlaubsinseln zu den Wettkämpfen in die Stadt bringen. Zwölf strahlende Kreuzfahrtschiffe werden im Hafen vor Anker gehen, in ihren Kabinen "13 000 Mitglieder der olympischen Familie", darunter "Staats- und Regierungschefs". Nicht weit vom Hafen entfernt werden die griechischen Schwergewichtler den Rest der Welt zu stemmen versuchen, und im "Stadion des Friedens und der Freundschaft", neben dem gerade die längste Strandpromenade Europas entstanden ist, werden die Volleyballer ans Netz gehen. Auch die Tavernen in der Nähe des Hafens haben sich in Schale geworfen, die Speisekarten sind neu geschrieben worden, die Sonnenschirme neu betucht. Doch es gibt auch noch die anderen, solche wie das hölzerne, windschiefe "Bistro 1", oder wie das kleine, blaue Kafenion von Thanassis.
Thanassis und die drei andern blicken den Olympischen Spielen mit lässig herabgezogenen Mundwinkeln entgegen. Was soll sich ändern? Sie sitzen hier seit sie denken können, ein paar Männer, nachmittags beim Kaffee, abends beim Raki, zum Reden und zum Kartenspielen. Sie sitzen zwischen den Bierkästen und dem Telefon an der Wand, gegenüber der großen, alten Landkarte. Sie heben wortlos den Arm, und Thanassis kommt mit der etikettlosen Flasche angeschlurft.
Im Winter, wenn der Wind wie wild geworden in den Hafen fährt und den Regen gegen die kleinen Scheiben von Thanassis klatscht, die mit Kreide auf die Tafel gemalten Preise für "Ouzakia" oder "Kafedakia" wieder runterwäscht, wenn die Gummistiefel unter den wackligen Stühlen in kleinen Pfützen stehen und die Männer stiller sind als sonst, dann schimmert durch den Regen diese Szene mit Anthony Quinn, dem bärtigen "Alexis Sorbas", der in einer Kneipe in Piräus auf irgendein Schiff in die Zukunft wartet - ein Schiff aus Hongkong, Java, Chile und Schanghai.

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

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