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Die Heidestraße

Von Hans W. Korfmann

Die Bahnhöfe Europas sind Tore mitten ins pulsierende Leben. Die Pariser Stationen in der Nähe der großen Boulevards mit ihren Cafés und Bistros, der Kopenhagener Hauptbahnhof, nur wenige Schritte zum Tivoli und zum Rathaus, am Wiener Westbahnhof kreuzt der rotlichtüberflutete Gürtel die Verkaufsmeile der Mariahilferstraße, in Frankfurt verlieren sich Neuankömmlinge auf der Kaiserstraße in Bars und Kneipen. Lärmende Straßenkreuzungen mit hupenden Taxifahrern, Hotels, Restaurants und Geschäften sind mit der Zeit um die Bahnhöfe gewachsen und prägen das Stadtbild.
Der entstehende Lehrter Bahnhof liegt derzeit noch zwischen wasserüberfluteten Baugruben und Sandbergen auf unkultiviertem Brachland.  Entstehen soll „ein Bahnhof der Superlative“, für 250000 Reisende täglich, vierstöckig, glasüberdacht, ein Ausstellungsstück für das geltungsbedürftige Nachkriegsdeutschland. Doch auch wenn im Jahr 2002 die Stadtväter ihre Laudatio auf das Kunstwerk halten werden, könnte dem architektonischen Juwel noch immer die Fassung fehlen - könnte es einsam vor sich hinfunkeln in der menschenleeren, kulturellen Wüste zwischen Wedding und Moabit. Der Haupteingang wird den Besucher nicht auf den Ku’damm und nicht auf die Friedrichstraße führen, sondern auf die zum Highway ausgebaute Invalidenstraße. Ein paar Schritte sind es dann bis zu einer Kreuzung, von der eine Straße abzweigt: die Heidestraße.
Kaum befahren und kaum von Fußgängern betreten führt sie über eine Strecke von knapp 1,5 Kilometern von einer Kreuzung zur anderen. Nahe ihrem nördlichen Ende zweigt die Sellerstraße von ihr ab und geleitet die Autofahrer zu Schering, irgendwo in ihrer Mitte weist ein Straßenschild auf die Döberitzer Straße 1 hin: Mehr Hausnummern hat die Sackgasse nicht. Ansonsten zieren an der Einfahrt zum Containerbahnhof eine Ampel und ein Zebrastreifen das monotone Straßenbild. Der 248er durchfährt die Heidestraße im 20-Minutentakt, einsam stehen die beiden Haltestellen am Straßenrand, selbst der Busfahrer hat sie längst vergessen. Einmal kreuzt ein versandetes Gleis die Straße. Am Rand steht schon seit Jahren ein hellblauer, hölzerner Bauwagen, aus allen vier Reifen ist die Luft raus. Nachts parken die Lkws in der Heidestraße und warten aufs Morgengrauen, um ihre Container zu laden. Den Halteverbotschildern zollt niemand Beachtung - nicht einmal jene, die sie aufgestellt haben.
Flankiert wird der öde Asphaltstreifen von dem Zaun und den Gleisen des Containerbahnhofs mit seinen bunten Blechkästen und rostigen Gleisen, Speditionsfirmen, niedrigen Lagerhallen, einem Getränkeabhollager und einigen Gebrauchtwagenhändlern. Dazwischen stehen etwas verloren fünf vom Krieg verschonte Wohnhäuser. In den Fensterscheiben der bröckelnden Fassade lockt ein Vermieter mit diagonalen Schriftzügen und Leuchtfarbe, seit Monaten. Umsonst. Die meisten Wohnungen sehen verlassen aus, nur im  Erdgeschoß der Nr. 45 hängen Teppiche vor den dünnen Scheiben. Es ist zugig in der Nähe von Bahnhöfen. Das Gebäude nebenan diente als Ausländerwohnheim, in den Fenstern stehen noch die Gestelle der Doppelbetten. Auch die „Kutscher Stube“ hat inzwischen geschlossen. Die Straße leert sich. Sie will nicht so recht ins Bild passen - vom modernsten Bahnhof Europas.
„Die Mieten jedenfalls sind günstig“, lacht einer mit vier Einkaufstüten in der Hand und von Kälte, Anstrengung und Weintrauben roter Nase. „Sehr günstig“! Trotz der Aussicht auf einen optimalen Verkehrsanschluss nach Mailand, London und Paris, trotz Blick auf die Zukunft mit „dem Verkehrsknotenpunkt Europas“. Auch die Tatsache, daß die meisten Firmen nebenan entweder die Straßenseite gewechselt haben oder ganz aus der Gegend verschwunden sind, könnte einen nachdenklich stimmen. Nicht aber den Mann mit den morgendlichen Pennytüten: „Dazu leb´ ich zu lange in der Stadt. Die sagen doch alle fünf Minuten was anderes!“
Bruno wohnt auch dort mit Blick auf den Bahnhof, zu Mittag taucht er am Imbiß auf, pünktlich „wie die Eisenbahn. Ich wohn jedenfalls schon 16 Jahre hier. Die wissen glaub ich selbst nicht, was sie wollen. Erst hieß es, wir müssen weg. Jetzt heißt es, wir bleiben. Also bleiben wir.“ Die Würstchenbude stimmt alle optimistisch. Sie hat wieder geöffnet. Trotz der Schlemmerstuben, die man in mehreren Containern für die Arbeiter eingerichtet hat, die den Bahnhof bauen. Früher war es billiger gewesen. Da kostete die Wurst 1,50. Sowas gabs nur im Osten und hier. Jetzt zwei Mark. Die Gulaschsuppe zweifuffzig. Da kann man nicht meckern. Er deutet auf den Spruch an der Wand: Hier kommt die Ware nicht vom Band, hier schenkt man noch mit Herz und Hand. -  „Das stimmt!“, sagt Bruno und nickt, „Das hier hat noch was herzliches!“ Er blickt aus dem Fenster, das der neue Betreiber des Imbißes in das grünlackierte Schrebergartenhäuschen vor dem Wohnwagen gesetzt hat. Mit echten Fichtenzweigen und Weihnachtskugeln auf dem schmalen Fensterbrett. Draußen stehen Rosenstöcke und Gartengeräte. Wie lange der Imbiß das Gartenland am Baustellenrand gemietet hat, weiß Bruno nicht.  Das einzige, was er definitiv weiß: „Der Containerbahnhof kommt jedenfalls weg!“
Im Büro über dem frischgepflasterten Parkplatz des Verladebahnhofs sieht man das anders. Die Auslastung ist konstant, „wir haben hier bis zu 100000 Ladeeinheiten im Jahr. Außerdem ist das Gelände unter der Flutlichtanlage gerade erst neu gepflastert worden. Wir gehen davon aus, daß wir bleiben.“ - „Purer Optimismus!“ sagt einer der Nachbarn. „Jeder hier versucht sich einzureden, daß er bleiben kann. Und daß alles so weitergeht wie bisher.“ Schließlich habe sich die Bahn bereits nach einem alternativen Standort für den Containerbahnhof am Stadtrand umgesehen, bevor sie sich entschloß, vorerst doch lieber an Ort und Stelle zu bleiben. „Aber einerseits diese rostigen Blechbüchsen hier, andererseits dieser Palast da drüben - irgendwie paßt das nicht zusammen.“
Nichts ist mehr sicher in den Zeiten der Gebrauchtwagenhändler und Immobilienhändler. Berlin ist im Umbruch. „Nischt genauet weeß ma nich!“, zitiert Bruno vor seinem Schnitzel mit Salat. „Um die Ecke jedenfalls,“ sagt er und kaut weiter, „dem Gebrauchtwagenhändler“, sagt er und trinkt einen Schluck, „hat man vor einiger Zeit die Kündigung in Aussicht gestellt. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Demnächst will er seinen Laden sogar komplett renovieren.“
Andere allerdings sind schon lange weg. Solex, die hier jahrzehntelang Vergaser produzierten. Oder die Computerfirma, die hier ihr zentrales Lager hatte. An der Tür nur noch ein Schild: GRAVIS ist umgezogen. Der halbe Gewerbehof der Heidestraße 46-52 steht leer. Ein Hund verschwindet mit eingekniffenem Schwanz durch ein Loch in der Hofmauer, ein halber Porsche Cabrio sucht Schutz vorm Regen unter einer Plane, das Dach der leeren Lagerhalle nebenan erweckt wenig Vertrauen. Dekra hat im desolaten Hinterhof noch ein Schulungszentrum für ABM-Kräfte - doch auch sie haben bereits gekündigt. Die Firma Lindroth mit ihren Hydraulikschläuchen ist geblieben. Seit neun Jahren in der Straße. Kürzlich hat man den Mietvertrag um fünf Jahre verlängert. Bis zum Jahr 2003. Günstig. Obwohl der Besitzer der Imobilie, die Arnold Kuthe GmbH, eigentlich nichts verschenkt. „Ich glaube, daß wir hier alle wegmüssen. So ein Bahnhof ist immer eine belebte Gegend. Und wo soll denn noch Leben entstehen, wenn nicht hier. Sonst ist kein Platz. Links sind die Museen, rechts das Gefängnis, dahinter sitzt der Kanzler.“
Am Potsdamer Platz, in der roten Ausstellungsvitrine der Debis, der Bahn und der Stadt, preist man das Projekt mit stolzen Worten: „Von der Brache zum Stadtbahnhof: Rund um den Bahnhof der Zukunft entsteht ein neues Viertel mit einem Wohnanteil von 30%. Jahrzehntelang wurde dieser Bereich städtebaulich vernachlässigt. Nun gelangt das neue Stadtquartier mit dem Bahnhof als Mittelpunkt zu neuer Attraktion.“
Auf den kleinen Modellen neben den realen Bürotürmen erkennt man einen Hotelwürfel und eine komplexe Büro- und Wohnanlagenlandschaft, die unmittelbar neben dem Glasbahnhof in der Nähe des Spreebogens entstehen sollen. Die dort geschaffenen Wohnungen sind vornehmlich Regierungsbeamten zugedacht. Aus dem Humboldthafen soll ein gigantisches Bassin werden, umgeben von einem schutzwallähnlichen Rechteck aus Gewerbe- und Wohnräumen. Das Projekt jedoch steht noch auf unsicheren Füßen.
Auch ein kleines Stück der Heidestraße ist auf den Plänen der Architekten zu erkennen: das südliche Ende von der Invalidenstraße bis zur Döberitzerstraße. Auf der westlichen Straßenseite sind neue Häuserblöcke zu sehen. Dort, wo heute Baumaterialien lagern, das Gebäude des alten Verladebahnhofs und eine Tankstelle stehen. Ein Mineralölkonzern hat erst kürzlich die einst verpachtete Filiale zurückgewonnen und wieder seine gelbe Muschel aufgehängt. Sogar von einem Ausbau ist die Rede, kombiniert mit Backshop. Genaues wissen auch die Angestellten nicht. „Wir erfahren sowas immer als letzte!“ Strategisch wäre die Lage nicht schlecht - knapp zweihundert Meter entfernt von jener Stelle, wo die unterirdische B96 eines Tages aus dem Dunkel des Tiergartentunnels auftauchen und in die Heidestraße münden wird.
Heute steht dort noch die Imbißbude im Schrebergarten. Dahinter ist das Büro der „Arbeitsgemeinschaft Lehrter Bahnhof 1.4.“ Bruno kennt einen von denen, „sogar einen, der was zu sagen hat. Der kommt auch hier rüber zu Schnitzel und Salat.“ Bruno hat einmal gefragt, was denn nun werden soll mit der Straße. So richtig was erfahren hat er nicht. Aber nett sind sie. Sie haben sogar Sinn für Kunst und eine der leerstehenden Hallen neben dem alten Bahnhofsgebäude einem Künstler zur Verfügung gestellt. Zufällig sahen sie den Bildhauer bei der Verarbeitung eines Baumes, der dem Bahnhof weichen mußte. So kam man ins Gespräch. Die Miete zahlt der Künstler in Skulpturen.
Vor dem Eingang des Büros stehen inzwischen drei grob aus dem Stamm gehauene Gestalten. Mehrere Meter ragen die anthropomorphen, gesichtslosen Statuen wie Totempfähle vor dem Horizont der Industrielandschaft auf. Ein Blickfang für jene wenigen, die versehentlich durch die trostlose Straße wandern. Inzwischen stehen Klaus Scheckenbachs Bäume bereits vor dem Literaturhaus in der Fasanenenstraße und in der neu gestalteten Friedrichstraße. Sogar Baselitz, ein Star unter Bildhauern, hat seinen Besuch auf dem kulturellen Brachland angekündigt.
Weniger gut läuft der Verkauf auf dem Trödel gegenüber. Es hat sich immer noch nicht herumgesprochen, daß es billiger ist auf dem Heidemarkt, für alle Beteiligten. Der Meter überdachter Standfläche kostet 18 Mark im Monat. Sozialhilfeempfänger können auf der Freifläche sogar umsonst anbieten. In der Halle nebenan befindet sich das Möbellager des „Technisch Sozialen Güterservice“ mit kostenlosem Mobiliar für Bedürftige. Trotzdem verirrt sich keiner in „diese gottverlassene Straße. Vielleicht demnächst, wenn die vom Flohmarkt am Gendarmenmarkt auch kommen. Die wollen hier mieten - bis 2003!“
Olli reibt sich die Hände. „Kaum ist man hier drin, hat man kalte Hände!“ Er kennt sich aus in der Straße, er hat die Pläne gesehen. „Da kam mal so´ne Delegation von der Reichsbahn, die haben hier ein Büro einrichten wollen. Wozu, weiß kein Mensch. Die kamen zwei Mal und wurden nie wieder gesehen. Die janzen Hallen hier, dat kommt allet weg! Die janze rechte Seite!“ -“Eh besser!“, sagt ein Kollege.
Manchmal kommen zwei oder drei Fremde, aber meistens sind die vom Heidemarkt unter sich.  Stehen zu sechst zwischen ihren Möbeln aus den Sechzigern, den ganzen Tag, die ganze Woche, außer Montag, da ist geschlossen. Sie werfen Pfeile auf die Dartscheibe, stehen am Ausschank mit den Bierkrügen und trinken gegen die dauernde Kälte in den zugigen Lagerhallen. Reich werden sie nicht, sie kommen hierher, „damit die Zeit vergeht, schön langsam - bis 2003.“
Die letzten, die abends noch wach sind in der Heidestraße, sind die Mädchen. Früher waren sie mehr. Die von der Heidestraße. Die schönsten nicht, und nicht die teuersten. Aber die einsamsten vielleicht, und die mutigsten. Wenn sie bei Nacht und Nebel an einer Straße stehen, die kaum einer kennt. Das ist kein leichtes Brot. Auf dem Ku’damm, das kann jede! Aber hier, wo alle halbe Stunde mal einer vorbeikommt, hier Stunden warten, nur um irgendeinen müden Brummi rumzukriegen, der sich auf der Parkspur in die Koje seines Führerhäuschens verkriechen will, für ein paar Mark! „Naja, vielleicht wird das hier ja mal so was wie die Kaiserstraße, oder wie die Reeperbahn - und dann bin ich hier, sag ich Dir, dann kriegt mich keiner mehr weg von dem winzigen Strich hier.“ Irgendwann in der Nacht sind auch die Mädchen von der Straße verschwunden. Es ist still geworden in der Heidestraße, keine Musik und keine Streitgespräche dringen mehr aus dem unbewohnten Wohnheim, auch der Containerbahnhof liegt bewegungslos im gelblichem Flutlicht, die Straßenlaternen leuchten vereinzelten verirrten Autofahrern. Dann bricht der nächste Tag an. Am Horizont der Heidestraße wächst langsam der gläserne Bahnhof in den Himmel. Wird das Juwel die Heidestraße nun in Licht oder Schatten tauchen?
Die von der Straße können sich schwer etwas anderes vorstellen als das, was ist.

Der Tagesspiegel - 200?
© Hans W. Korfmann

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