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Das Volk vom Kolk

In einer kleinen Kanalbucht mitten im Berliner Stadtteil Wedding ist ein lebendiges Biotop entstanden

Selbst im Wedding, Berlins legendärem Arbeiterviertel, trifft man auf Exotisches. Wenn der Wanderer am Ufer des Hohenzollernkanals die Boote mit den bunten Fähnchen sieht, Hunde, die auf dem Deck herumlaufen, Männer, die in der Sonne sitzen und mit Zangen und Schraubenschlüsseln hantieren, dann fühlt er sich wie in einen griechischen Hafen versetzt. Auf den morschen Holzbalken eines ausgedehnten Floßes nistet ein Schwanenpärchen. Die Binnenschiffe Claus und Rosi haben hier im Kolk ihren letzten Ankerplatz gefunden. Indes künden qualmende Ofenrohre an Deck, zehn Meter hohe Antennen und Satellitenschüsseln von menschlicher Besiedlung. Die Bucht am Rande der Berliner Wasserstraße liegt gleich neben der Spennrathbrücke, unter der im Sommer Männer auf Faltstühlen sitzen, Bier trinken und ihre Angeln ins trübgrüne Wasser auswerfen. Damit die Zeit vergeht am Kolk, dem Wasserloch.
Nach dem Krieg warf man Müll und Schrott in die Tiefe der alten Kiesgrube, eine Zeitlang diente sie Binnenschiffern als billiger Liegeplatz, dann drohte sie zum Schiffsfriedhof zu werden. Der Kolk war immer ein Platz für Ausgedientes. Für ein Leben am Rande, nur einen Steinwurf entfernt von der Autobahn, auf der vierspurig und vierundzwanzig Stunden täglich der Verkehr rollt. Hier unten ist es ruhig, sehr ruhig.
Ein Fußpfad führt hinunter zu den schwimmenden Häusern, an den Bäumen hängen die Briefkästen, kleine hölzerne Schnapsfässer mit Schlitz. Bis vor kurzem brachte der Postbote die Briefe noch auf die Boote, doch mit den neuen Siedlern wuchs auch die Meute der Schäferhunde, die den Hafen der Gestrandeten bewacht. Ein unübersehbares Schild kündigt die Reederei Becker an, doch der Weg führt zu einer verschlossenen Holzbaracke. Das Dach ist mit einer Plane abgedeckt, die rostige Achse eines Lkw verhindert, daß der nächste Sturm sie mitnimmt. Eine Blechwanne lehnt am Baum, Autoreifen, Maschinenteile und Schiffsschrauben.
Im Kolk erhält jeder einen neuen Startplatz fürs Leben
Im Kolk wohnt eine Gemeinde aus Pensionären, Kindern, Geranien, Fahrrädern und Grillrosten. Frührentner Hill sitzt so wie seit Jahren morgens auf Deck in der Sonne und spuckt Pflaumenkerne an Land. Manchmal denkt er daran, die Anker zu lichten. Aber wozu? Und wohin? Die paar Quadratmeter Wasser, die er von der Stadt pachtet für seinen Ruhesitz, kosten nicht viel, das Büchsenbier ist erschwinglich. "Was soll man sonst machen als Rentner!" Freunden, die ihm vom billigen Leben in der sonnigen Türkei erzählen, winkt er ab: "In die Türkei brauch ich nich zu fahren, die is hier."
Die meisten Kapitäne der Hausboote sind Landratten. Nachbar Wegener, ebenfalls Vorruheständler, ist dem Wasser mehr verbunden: Seit einem Jahr baut er an seiner Yacht. Damit will er dann losschippern, zur Donau und an die Ostsee. Baumaterial gibt es genügend, der Ort der ausgedienten Frachter ist ein einziges Ersatzteillager.
Jörg bastelt am anderen Ende der Bucht neben dem Kutter mit der Piratenflagge an seinen Motorrädern. Und an seinem Schiff. Bis zum Jahr 2001 will er fertig sein mit der Santa Maria und sie endlich abbezahlt haben. Vielleicht verkauft er dann das Boot, schwingt sich auf ein Motorrad und läßt den stillen Hafen für immer hinter sich. Aber vielleicht bleibt er auch. Zuviel Arbeit hat er in sein neues Zuhause gesteckt: An der holzvertäfelten Wand der Kajüte hängt die vergilbte Kopie einer Seekarte aus dem 18. Jahrhundert. Und nach den Petroleumlampen, dem gußeisernen Ofen, den Messingklinken an Türen und Fenstern hat er sämtliche Flohmärkte abgesucht.
Auch die dicken Teppiche über dem schwankenden Boden erinnern an die Zeiten glorreicher Freibeuter, genauso wie der Spitzbart ums Kinn. Vielleicht wird er wirklich bleiben. Im schwimmenden Eigenheim. Irgendwie wird es weitergehen. Das sagen hier alle. Aber das Volk vom Kolk weiß, daß es nur geduldet ist, hier am Rand der Stadt, mitten in Berlin. Jahrelang haben sie betteln müssen, bis man den schwimmenden Besetzern des Wasserlochs Mietverträge aushändigte - für drei Mark den Quadratmeter im Jahr. Doch immer wieder spricht man davon, das vergessene Becken dem Westhafen anzugliedern. Und als Berlin sich um Olympia bewarb, sollte die Nische sogar zur Wassersportarena umgebaut werden, mit Wohnstätten am Ufer.
Doch die Olympiade kam nicht, im Westhafen rollen nur noch die Lkw, und während so die großen Ereignisse an der kleinen Bucht vorüberzogen, hat sich das Leben weiterentwickelt. Hemden und Hosen trocknen vom Fahnenmast bis zur Antenne in der Sonne, Liegestühle warten auf Besuch, Kinder springen ins grüne Wasser. Im Sommer kommen die Fische zum Laichen, morgens hört man das wilde Plätschern ganzer Schwärme. Und im Winter drückt das Eis knirschend gegen die stählernen Leiber der Schiffe, emsige Angler mit Fellmützen über den roten Gesichtern bohren Löcher ins Eis und köcheln sich auf dem Spirituskocher ihren Grog.
So ist der schmucklose Kolk zur Idylle geworden. Auch für die Bewohner der schwimmenden Pension "Ambord", einer Wasserburg aus vier Schiffen. Die zehn Gästezimmer sind immer ausgebucht, das Sozialamt sorgt für Dauergäste. Auf den Booten kommen sie in ruhige Gewässer, und mit Klaus-Dieter Ambord kann man reden. Als vor drei Jahren die meisten Aufträge auf der Baustelle Berlin vergeben waren, schloß der Architekt sein Büro am Ku'damm und ging im Kolk an Bord. Jeder, der einmal hier draußen angekommen ist, bekommt einen neuen Startplatz. Einigen seiner Gäste hat Ambord neue Jobs vermittelt. Inzwischen fragen die Bezirksämter bei ihm an, ob er nicht in Lichtenberg oder Köpenick mit seiner schwimmenden Herberge vor Anker gehen wolle.
Aber auch Touristen, Stewardessen und Künstler gehen an Bord. Die ARD mietete sich für zwei Tage ein und drehte die Geschichte eines Häftlings, der aus dem Knast ausbricht, um bei der Niederkunft seiner Freundin dabeizusein - einer Hausbootgeburt natürlich. Von den tausend Mark am Tag feierte der ganze Kolk ein riesiges Fest mit Live-Band an Deck. Rauchschwaden entstiegen der Weddinger Bucht, es roch nach ägäischen Sommernächten.
Man feiert Feste und bleibt ansonsten lieber unter sich
"Unsere Mieter", so steht es im Prospekt, "sind Touristen, reisende Monteure, Therapieabbrecher, Haftentlassene sowie Menschen, die durch Obdachlosigkeit bedroht sind." - "In der Not aufs Boot!", sagt Ambord.
Kapitän Becker von der Reederei sieht dem neuen Treiben gelassen zu. "Im Kolk lebte immer ein bewegtes Volk, da waren schon damals gleich nach dem Krieg der Schmolke und der Friseur und der Pony-Neumann mit seinen zwei Pferden auf Deck. Und dann, kurz bevor sie die Mauer bauten, lagen hier sechzehn Frachter, alles solche, die nicht mehr zurückwollten nach dem Osten. Die blieben alle erst einmal hier."
Seit sein Vater 1946 den Verladeschuppen für die Ziegeltransporter auf 99 Jahre pachtete, wohnt Becker hier. Er ist Schiffer in der vierten Generation und besitzt neun Pötte, darunter Mars, Venus, Uranos und Jupiter. Einige kreisen noch immer auf ihrer Umlaufbahn um den Kolk. Mit seinem Frachter fährt er noch manchmal Kies von Magdeburg zum Westhafen, immer öfter zieht es ihn zurück in den Heimathafen. Die Zeiten, als man Käpt'n Becker mit dem Flugzeug aus Bremen oder Hamburg einfliegen ließ, weil er der einzige war, der einen Achtzigmeterfrachter durch die engen Kanäle Berlins steuern konnte, sind vorbei.
"Man hat einen hier nie beachtet!" sagt Becker und lacht. "In ganz Deutschland suchten die Bonner zum fünfzigjährigen Jubiläum des Endes der Blockade nach der Arcona, dem berühmten Blockadebrecher. Dem ersten Schiff, das beladen mit Carepaketen, Heringsfässern und Mehl die ausgehungerte Stadt anlief." Hier im Kolk, zwischen Beckers Schrotthaufen, hat sie keiner vermutet. Und hier liegt sie noch immer, an Beckers Leine.
Im Kolk geht nichts verloren, hier geht nichts unter. Man verleiht Werkzeug untereinander, hilft mit Rat und Tat. Man feiert Feste, von denen Laubenpieperkolonien nur träumen können, und bleibt ansonsten lieber unter sich. Hinter den dichten Zweigen am Kanal, geschützt vor den Blicken Neugieriger, ist ein seltenes Biotop entstanden. In einem abgelegenen Winkel, im Brackwasser der Zeit, die achtlos an ihnen vorüberrauscht, haben sich Menschen niedergelassen und eine eigene Lebensform gefunden.
Aus den morschen Pfählen des ausgedienten Floßes wächst das Gras. Das Schwanenpaar auf seiner winzigen Insel brütet jedes Jahr. Nachwuchs aber wurde noch nie gesehen.

Die Zeit - 98
© Hans W. Korfmann

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