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Herr D. und Drahtesel

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

"Onkel, ist das überhaupt ein richtiger Kindersitz?" - "Na klar ist das ein Kindersitz, in dem hab ich ja schon gesessen, so lange ist das schon ein Kindersitz!" - "Aber Onkel, der hat ja gar keinen Gurt!" - "Es gibt auch Kindersitze ohne Gurt, mein Kurt!", sagte Herr D. "Ich heiße gar nicht Kurt!", sagte Paul. Irgendwie passte es Herrn D. nicht, dass seine Familie immer das Kind bei ihm deponierte, wenn sie nach Berlin kamen, um einmal mehr die Mauer zu suchen.

Radelnd passierten Onkel und Neffe das Kanzleramt und näherten sich den vielen Kränen, die sich über dem alten Lehrter Bahnhof drehten, der so lange unter Denkmalschutz gestanden hatte, bis man auf die Idee kam, einen gigantischen Hauptbahnhof für die neue Hauptstadt zu bauen. Worauf man den Denkmalgeschützten kurzerhand dem Erdboden gleichmachte. Herr D. benutzte Radweg auf der linken Straßenseite, da der Neffe dort besser sehen konnte. Da tauchte am Horizont ein entgegenkommender Radfahrer auf. Als er auf dreißig Meter herangekommen war, senkte er den Kopf und steuerte geradlinig auf Herrn D. zu. Er unternahm keine Anstalten, dem Geisterfahrer D. auszuweichen. Herr D. bremste, fuhr an die Seite, drohte mit erhobener Faust und rief "Vollidiot! Sehen Sie nicht, dass ich ein Kind dabeihabe".

Da drehte sich der andere um, radelte zurück und blieb einen Meter vor Herrn D. stehen: "Und deshalb glauben Sie, tun und lassen zu können, was Sie wollen? IHRE FAHRBAHN IST DA DRÜBEN!"- Herr D. hasste diese Ritter der Straßenverkehrsordnung. Diese engstirnigen Ordnungsfanatiker. Diese stupiden Paragraphenreiter. "Wissen Sie was?" rief Herr D.: "Ohne solche Idioten, ohne solche ständigen Aufpasser wie Sie hätte der Faschismus in Deutschland mit allen seinen katastrophalen Folgen keine Chance gehabt! Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie weiterkommen, sie ostbirniger Flegel, sonst erstatte ich nämlich Anzeige wegen Gefährdung der Öffentlichkeit!"

Damit hatte der andere nicht gerechnet, völlig eingeschüchtert verstummte er. Unbehelligt fuhr Herr D. weiter in Richtung See. Bis an seiner Seite eine Polizeistreife auftauchte, ihn eine Weile im gleichen Tempo eskortierte und dann ein Fenster herunterkurbelte. Herr D. rief: "Glauben Sie diesem Straßenverkehrsordnungsfetischisten kein Wort!" Aber der Beamte insistierte, dass Herr D. anhielt. Sie grüßten den Neffen, gingen einmal ums Rad herum und sagten dann: "Dieser Kindersitz da, der hat ja gar keinen Gurt!" - "Hab ich auch gesagt!", sagte der Neffe. Herr D. überlegte, ob er das mit den Faschisten und den vielen Verrätern und Aufpassern noch mal erzählen sollte, entschied sich jedoch fürs Schweigen und zahlte bar.

Frankfurter Rundschau - 2005
© Hans W. Korfmann

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