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Herr D. wählt

Seitenblick

Von Hans W. Korfmann

Eigentlich ging Herr D. ja nicht mehr wählen. Seit diese Politiker alle das Gleiche sagten und taten. Und seit die Wahllokale nicht mehr in Lokalen untergebracht waren, in denen man einen Wahlsonntag mit einem Bier begann, sondern in leeren Schulgebäuden. Und seit niemand von seinen Kollegen mehr darüber sprach, wen er eigentlich wählte. Als lebten wir nicht noch immer in einer Demokratie.

Doch Herr D. war der Kaffee ausgegangen. Ein Sonntagmorgen ohne Kaffee jedoch war unerträglich. Und da gleich neben dem Bäcker die als Wahllokal zweckentfremdete Adolf Glasbrenner-Schule lag, nahm Herr D. seinen Ausweis mit. Damit er dieses Mal nicht wieder nur Buhrufe erntete, wenn sie ihn fragen würden: "Na, warst Du auch wählen?" Denn danach fragten sie noch, die braven Demokraten, ob einer seine Pflicht erfüllt hatte oder nicht.

Unterwegs sah er die Rentner in Sorge um ihr bisschen Pension eiligst zur Schule humpeln, überholte einige mutmaßliche Hartz IV-Empfänger und seinen arbeitslosen Nachbarn Schulz. Alle griffen nach dem letzten Strohhalm. Den Eingang zum Wahllokal fand Herr D. spielend. Womöglich waren es die Schüler der Glasbrenner-Schule, die den Eingang zum Schulhof mit den Ikonen des Wahlkampfes 2005 geschmückt hatten. Nicht, ohne die Wahlplakate künstlerisch umzugestalten: Oskar hatten sie diabolische Hörner aufgesetzt, die ihm ausgesprochen gut standen, Angie sah aus wie ein gealtertes Groupie der gealterten Stones, gleich daneben hing Hippie Ströbele, und ganz links grinste Furcht erregend Frau Reinauer, die Bezirksbürgermeisterin der PDS. Herr D. hatte Lust, gleich wieder umzukehren.

Im Wahlraum saßen sechs Wahlhelfer, drei rechts, drei links. Wie im Bundestag. Sie sahen auch alle so aus, als gehörten sie einer der beiden Parteien an. Wieder dachte Herr D. an Flucht, doch da wurde er auch schon diensteifrig herangewunken. Hier links müsse er seinen Wahlberechtigung zeigen, rechts seinen Ausweis. Herr D. tat wie geheißen. Wieder auf der linken Seite wurde seine Identität in einer Liste aufgespürt und abgehakt, und auf der rechten Seite durfte er endlich seinen Zettel einwerfen. Die anderen beiden Wahlhelfer waren zur Reserve da. Falls einer der vier anderen ausfiel. Alle Wahlhelfer machten Gesichter, als seien sie froh, wenigstens einmal im Jahr Arbeit zu haben. Herr D. dagegen war erst froh, als er wieder draußen war.

Am Abend sah er die Ikonen der Wahl 2005 im Fernsehen. Doch er musste bald wieder abschalten: Zu stark erinnerten sie an die Fratzen von der Schulhofmauer

 

Frankfurter Rundschau - 2005
© Hans W. Korfmann

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