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Herr D. unter den Linden

Seitenblick

Von Hans W. Korfmann

Herr D. wollte sich diese moderne Weihnachtsdekoration ansehen. Unter den Linden waren alle Bäume entlang der Allee mit Lichterketten bekleidet, die ihre Stämme und stärksten Äste hinaufkletterten und nächtens, ähnlich wie Röntgenaufnahmen, ihr Skelett nachzeichneten. Die poesielosen Berliner fanden das wieder einmal fantastisch.

Er ging also so die Straße entlang, da stieß er auf eine Menschenmenge. Er wühlte sich bis vor die ausgebreiteten Arme einiger Polizisten durch. Die schauten extrem finster, schüttelten ständig den Kopf und sagten immer nur: "Zurück!" Herr D. fand die deutsche Polizei besonders grimmig, obwohl eine Begegnung mit der Polizei auch in anderen Ländern oft kein erfreuliches Ereignis war. Doch wirkten die Gesichter deutscher Polizisten irgendwie besonders Furcht einflößend. Dabei waren es weniger die Uniformen, der Ton oder der Knüppel am Gürtel, es war der Gesichtsausdruck.

Nichts ist so gefährlich wie die Dummheit, überlegte Herr D. Aber dann überlegte er, ob es vielleicht nur an den vielen Nazifilmen lag, die zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte und zur Aufrechterhaltung des nationalen schlechten Gewissens auch in der Generation der Enkel seit Jahrzehnten Kinos und Wohnzimmer verstrahlten, wenn er bei grimmigen Visagen in Uniform zu Zittern begann. "Zurück", sagte die Polizisten und schoben die Neugierigen Richtung Brandenburger Tor. "Was ist denn los?", fragte Herr D., doch das Schweigen war eisig.

"Was ist passiert?", fragte er auf dem Weg zurück eine Frau. Die Auskunftsbereitschaft der Berlinerin war grenzenlos. Sie sprach so schnell und so viel, dass Herr D. immer nur eines verstand: "Bombe!"

"Na war doch klar," rief ein Mann neben ihr, "kaum ist die CDU dran, sind wir im Visier der Islamisten. Die werden Berlin in die Luft jagen, nur wegen dem C im Parteinamen. Schon deshalb hätte man die nie wählen dürfen!"

"Die Uni ist evakuiert worden."

"Wieso denn die Uni?", schaltete sich ein Dritter in die Diskussion. "Die ist doch voll mit solchen wie denen!"

"Ach Quatsch, die haben es auf das Reiterdenkmal abgesehen! Das ist total abgesperrt!"

"Aber was hat denn Friedrich der Große damit zu tun?"

Herr D. hatte genug gehört und sah zu, dass er weiterkam. Der Terror des 21. Jahrhunderts war grausam und gesetzlos. Herr D. hielt Flucht für das Vernünftigste. Erst, als er abends im Radio von einem Blindgänger aus dem 2. Weltkrieg hörte, der drei Meter vor dem Reiterdenkmal mit dem Friedrich gefunden worden war, begann er an seiner Vernunft zu zweifeln. Dass der diesen Bildern aus Film und Fernsehen immer wieder auf den Leim ging - egal, ob es sich nun um Nazifilme oder um blutrünstige Nachrichten handelte.

Frankfurter Rundschau - 2005
© Hans W. Korfmann

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