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Herr D. und das Unglück

Seitenblick

Von Hans W. Korfmann

Der erste Tag nach zwei Wochen Schnupfen und Betthüten war ein Unglückstag. Es begann damit, dass Herr D. die Ausweispapiere auf dem Gepäckträger seines neuen Fahrrades ablegte - das achte, seit er in Berlin war - , sich dann über sein Rad beugte, um es loszuketten, plötzlich die dampfende Hinterlassenschaft einer Bulldogge nur wenige Millimeter neben seinem Hinterrad gewahrte, im gleichen Augenblick schon ahnte, dass die Dokumente vom Gepäckträger ins Rutschen geraten könnten, nach dem Gepäckträger greifen wollte, um das Schlimmste zu verhindern, als sich von oben ein Dachziegel näherte ins Bild huschte, worauf Herr D. blitzschnell die Hand wieder wegzog und nur noch ohnmächtig zusehen konnte, wie zuerst die Papiere im Hundescheißhaufen und dann der Dachziegel darauf landete.
Das sind Tage, an denen man besser im Hause blieb. Auf keinen Fall sollte man zur Arbeit gehen. Herr D. fuhr zur Arbeit. Ins Auswärtige, wo jetzt ein- und ausgeräumt, Stühle hin- und hergerückt wurden. Herr D.s Stuhl nicht, denn Herr D. war ein kleiner Beamter, er gehörte zum Inventar. Herr D. blieb gelassen, Herr D. erwartete auch nicht mehr vom Leben als einen Urlaub im Sommer und Weihnachten im Winter und ansonsten Ruhe.
Doch da kam ihm die Liebich entgegen. Das liebe ich, murmelte er und wollte in einem Seitengang verschwinden, da rief sie schon: „Na, haben Sie das gehört, Herr D.? Jetzt gehts uns ans Weihnachtsgeld!“
„Na, ein bisschen Solidarität muss sein, Frau Liebich!“, sagte Herr D., als sich ihre Nasen fast berührten.
„Ja, aber warum sollen wir Kleinen uns denn mit den Großen solidarisieren?“, rief die Liebich. „Den Vielverdienern da oben tut das ja nicht weh, aber Sie bekommen doch auch nur so ein kleines Beamtengehalt. Oder wollen Sie jetzt Abgeordneter werden?“ Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand. Herr D. gab ihr heimlich Recht.
Den ganzen Tag über musste er Recht geben. Alle fragten nach seiner Gesundheit, um dann nahtlos aufs Weihnachtsgeld zu sprechen zu kommen. Als wüssten sie es erst seit gestern. Und als er am Abend sein Fahrrad in den Hof schob, kam ihm zu allem Überfluss der Nachbar aus dem zweiten Stock entgegen. Ein Zivildienstleistender.
„Na, jetzt sieht das ja fast aus, als säßen wir im selben Boot, Herr Beamter!“, sagte er. „Tun wir aber nicht. Ihnen bleibt ja noch immer genug zum Urlaubmachen. Aber wir Zivis bekommen ja eh schon nichts.“
Verdammt, dachte Herr D., irgendwie ist das alles schlimmer als die Ausweispapiere im Hundescheißhaufen und ein Dachziegel obendrauf.

Frankfurter Rundschau - 2005
© Hans W. Korfmann

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