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Herr D. im Schnee

Seitenblick

Von Hans W. Korfmann

Vor ihm stürzte ein Radfahrer, und Herr D. fragte sich, weshalb eigentlich in einem so fahrradbegeisterten Bezirk wie Kreuzberg die Schneereinigung die Radwege derart vernachlässigen durfte. Zwar waren die Radfahrer neben Autofahrern und Fußgängern die Minderheit unter den Verkehrsteilnehmern, aber sonst kümmerte man sich doch auch stets um die Minderheiten im Land.

Als Herr D. so ein blinkendes, schaufelndes Ungetüm den Bürgersteig blitzblank kehren sah, überholte er links und fuhr rechts ran. Der Schneeräumer hielt und das gelbe Blinklicht erlosch.

"Wieso kehren Sie eigentlich nicht auf dem Radweg. Sind Radfahrer keine Menschen?"

"Ich bin nicht für die Radwege zuständig!"

"Was heißt hier nicht zuständig? Da werden Menschen in Lebensgefahr gebracht, und dann ist niemand zuständig? Dann findet sich keiner? Und das im Zeitalter der der Ein-Euro-Jobber?"

Der Mann im Schneeräumer schaltete das Blinklicht wieder an und ließ Herrn D. schnaubend zurück. Da kam ein Rollstuhlfahrer auf den Schlechtgelaunten zu. Er hatte vor sich auf seinem mobilen Schreibtisch eine Flasche Bier, eine Tasse Kaffee, eine Packung Gitanes und eine Zeitung. Aus noch ungeklärter Ursache benutzte er nicht den Bürgersteig, sondern den schneematschbedeckten Fahrradweg.

"Sie glauben wohl, sie können sich alles erlauben, nur weil Ihnen ein Bein fehlt!", rief Herr D. Der Rollstuhlfahrer hielt neben einem dieser orangefarbenen Papierkörbe, die stets so montiert waren, dass sie den Radfahrern von ihren 100 zugestandenen Zentimetern Fahrbahnbreite noch etwa 40 übrig ließen. Wären sie nicht zufällig orangefarben angestrichen, hätten sie in der Statistik der Unfallursachen in Berlin vemutlich Platz eins eingenommen.

Der Rollstuhlfahrer hob die Hand, um sie im Schlitz des städtischen Müllschluckers verschwinden zu lassen. Nach und nach holte er vier Flaschen hervor, die er in die praktische Ablage unter dem Rollstuhl warf.

"Auch noch Pfandflachen sammeln!", rief Herr D. "Ist ja wohl der Gipfel! Die Pfandflaschen anderer Leute!"

"Genau!", rief da eine Frau, die mit einer Alditüte des schneegeräumten Weges kam. Sie sah aus wie eine Verkäuferin von Karstadt: Mitte Vierzig, blonde Locken, weiße Bluse und dieser deutsche Zug in den Mundwinkeln. Als sie ganz nah war, da erkannte Herr D., dass sie nicht nur so aussah wie eine von Karstadt. Sie war die Brotverkäuferin von Karstadt.

"Was machen Sie schon wieder hier?" rief sie. "Das ist meiner, das hab ich Ihnen doch gestern schon gesagt!"

Der Alte im Rollstuhl sah zu, dass er weiterkam. Auch Herr D. war endlich beschämt genug, schweigend zu seinem gesicherten Arbeitsplatz zu fahren.

Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann

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