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Herr D. und die Selfe

Seitenblick

Von Hans W. Korfmann

"Ach Herrje Herr D.", schäkerte die Nachbarin, die im Krieg den Brand auf dem Dachboden noch mit Sandsäcken gelöscht und Herrn D. mit ihren 85 Jahren am liebsten wie ein kleines Kind behandelte. "Wenn Sie wüssten, wie das hier mal war in unserer Straße. Das waren alles feine Häuser, in jedem Eingang gab's einen Portier. Wir hatten zwei Bäcker, zwei Schuhgeschäfte, sogar einen Hutmacher und jede Menge Konfektionswaren. Aber seit der Währungsreform", wie Frau Wiechert die Einführung des Euros bezeichnete, "stehen die Läden leer. Oder es kommt jedes Jahr ein Neuer."

Herr D. nickte. Kaum hatte er sich an den Bäcker mit den schlechten Schrippen gewöhnt, zog ein Trödler ein. Die einzigen, die sich in den Zeiten der Ein-Euro-Jobs länger hielten, waren zwei Ein-Euro-Läden. Erstaunlich war, auf welche Ideen die Berliner der Not kamen: Sie verkauften Senf, Holzpantinen, Bauchtanzzubehör oder Kettenhemden. "Erinnern Sie sich noch an den Spinnenladen?", kicherte die Nachbarin. Einmal hatte sie Herrn D. in den Laden gezogen, damit er sich so eine Vogelspinne aus der Nähe ansehen konnte. Und diese riesigen Heuschrecken, die ihnen zum Fraß dienten. Denen man allerdings das kurze Leben möglichst angenehm zu gestalten versuchte, indem man nur ausgewählte Brombeersträucher reichte. Denn von schlechten Sträuchern bekamen die Schrecken "Durchfall", wie der Micha von den Grazy Spiders sagte. Trotzdem blieb auch er nur ein Jahr.

Jetzt verkaufte man dort Selfe. Nachts glühten sie, von verschiedenfarbigem Neonlicht bestrahlt, gespenstisch im Schaufenster. Meistens waren sie kleine, kupferne Armreifen, die gegen Menstruationsbeschwerden, Angstzustände oder Radioaktivität halfen. "Selfica", so hieß es in einer Broschüre des "Infozentrums Damanhur", "wurde sehr umfassend in Atlantis benutzt. Aber auch in Ägypten, bei den Arabern und den Kelten lassen sich Spuren dieser Disziplin bis zum 8. Jahrhundert v. Christus nachweisen."

Ein Objekt stach schon aufgrund seiner Größe heraus und erinnerte eher an eine Art Miniaturlaboratorium aus dem Hause Jekyll & Hyde. Mit dem so genannten Spheroself konnte man nämlich innerhalb von nur 20 Minuten die so genannten Pentakel, eine Art Glücksmünzen, laden und speziell "auf die persönliche Frequenz" des Trägers einstellen. Und somit ein "individuelles Kraftschild für den Träger aufbauen". Herr D. staunte.

Dann fragte er: "Sagen Sie, wo finde ich denn jetzt einen Bäcker?" Der Mann zwischen den Selfen lächelte wie die Elfen, hob aber sanft schweigend die Schultern.

Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann

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