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Herr D. und die Fähnchen

Seitenblick

Von Hans W. Korfmann

In der Nacht hatte Herr D. Abkühlung in einem Biergarten gesucht. Gegen drei Uhr morgens fand er sie endlich. Am nächsten Morgen, der eigentlich kein Morgen mehr war, sondern ein früher Nachmittag, traf ihn die Hitze wie ein Schlag. Als er auf die Straße sah und überall die deutschen Fähnchen aus den Fenstern hingen, da musste sich der brave Herr D. fragen, ob er nicht zu viel getrunken hatte. Doch als ein schwarzer BMW mit offenen Fenstern, türkischer Musik und schwarz-rot-gelben Wimpeln auf dem Dach vorbeirauschte, war klar, dass es sich nur um den ganz alltäglichen Wahnsinn handelte, der vor einigen Wochen um sich gegriffen hatte. Es begann an jenem Tag, als Herr D. an einem Kindergarten vorüberkam, unter dessen alten Kastanien sämtliche Kinder, egal ob schwarz, rot, gelb oder weiß, allesamt schwarz-rot-gelbe Fähnchen schwingend im Hof herumliefen und in internationaler Solidarität riefen: Deutschland gewinnt! Wobei die Mehrzahl von ihnen noch in Windeln steckte und weder wusste, was die Deutschen da eigentlich gewinnen sollten, noch was für symbolträchtige Farben sie auf ihre Papierfähnchen gemalt hatten.

Aber als sich dieser Grauzopf, den Herr D. sowieso nicht leiden konnte, über die vielen deutschen Fähnchen in der Markthalle aufregte, gab er dem Wirt vom Imbiss Recht, der nüchtern anmerkte, dass in den Markthallen Italiens oder Frankreichs zehnmal mehr Wimpel wehten. Doch der Zopf war nicht allein auf der Welt. Auch andere fanden am neuen Fensterschmuck der Republik keinen Gefallen: Sein Hausmeister, der in den Fähnchen am Stiel potenzielle Blitzfänger sah. Oder der ADAC-Typ, der meckerte, man könne vor lauter Wimpeln die Ampeln nicht mehr sehen. "Spielverderber!", sagte ein Fan. Doch die Altlinken im Biergarten fühlten sich weiter an finstere Zeiten erinnert. "Obwohl die Fähnchen damals doch gar nicht so bunt waren", wie die offensichtlich geschichtskundige Bedienung mit dem Diamanten im Bauchnabel bemerkte.

Spätestens im Viertelfinale wurde Herr D. das Gefühl nicht los, dass die Fahnen allmählich zu viel wurden. Dass es einfach kein Ende nahm. So wie in dieser Geschichte von Dürrenmatt, in der ein Zug in einen Tunnel fährt und der Tunnel plötzlich kein Ende mehr nimmt. Daran musste der Herr D. denken, an diesem heißen Morgen zwei Monate nach dem Eröffnungsspiel. Die WM war längst vorbei, aber die Fähnchen hingen noch immer.

Frankfurter Rundschau - 2006
© Hans W. Korfmann

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