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Herr D. begegnet dem Winter

Alles ist leiser, alles ist langsamer, und selbst Berlin wirkt romantisch im Schnee

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Herr D. erwachte. Etwas war anders an diesem Morgen, aber er kam nicht gleich darauf. Erst, als er schon mit dem Kaffee in der Hand aus der Küche zurückkam, wurde ihm die merkwürdige Stille bewusst. Der dumpfe Puls der Großstadt, das ewige, leise Dröhnen war verschwunden. Schnee, dachte Herr D. und riss die Vorhänge beiseite. Da lag Berlin unter einem graublauen Winterhimmel, weiß vom Kreuzberg bis zum Fernsehturm. Flocken segelten in die Morgendämmerung, nur ab und zu tastete sich ein Taxi auf der glatten Straße den Kreuzberg hinauf. Herr D. freute sich wie ein kleines Kind. Es war sein erster Winter in Berlin.

Herr D. ging trotzdem zur Arbeit. Natürlich etwas später als sonst. Jeder normale Mensch nutzte die einmalige Chance des von den deutschen Verkehrsbetrieben stets unerwarteten Wintereinbruchs, um lächelnd die beste aller Verspätungsentschuldigungen vorzutragen: "Der Bus! Die Bahn! Der Stau!" Bei diesem Wetter reichten zwei Worte.

Herr D. studierte das Gesicht des Busfahrers. Berlins Busfahrer waren D.s Gradmesser für die Stimmung in der Stadt. Denn die Laune der Busfahrer war stets umgekehrt proportional zum Allgemeinbefinden. Wenn irgendwo in Berlin gefeiert wurde, wenn das Wetter sonnig und viele Menschen unterwegs waren, wenn eine Mauer zusammenbrach und ein vierzigjähriger Bruderkrieg beigelegt wurde, dann konnte man sicher sein, dass die Busfahrer eine grimmige Miene aufsetzten. Dann waren sie die Märtyrer Berlins, mussten Sondertouren fahren, blieben im Stau stecken, wurden die gesamte Dienstzeit über von gut gelaunten, witzigen Fahrgästen angepöbelt.

Der Fahrer sah furchtbar aus. Seine Mitreisenden dagegen waren guter Stimmung, wischten sich Gucklöcher in die beschlagenen Scheiben und machten den Eindruck, als könne die Reise ihrethalben bis zum Großglockner gehen. Ab und zu sahen sie auf ihre Uhren und nickten zufrieden. Es war Freitag, ein paar Stunden noch bis zum Wochenende. Auch in D.s Büro herrschte eine Art vorweihnachtlicher Frieden: Die Regierung hatte die Koalitionskrise unbeschadet überstanden, der Krieg lief wie geschmiert, lediglich die Berliner SPD machte den Bundesgenossen noch Sorgen. Verärgert waren die Kollegen nur über die Schneeräumung. Doch eher aus Prinzip. Die Bonner seien besser gewesen.

Herr D. hätte auch ohne Schneeräumung leben können. Insgeheim wünschte er sich sogar einen Schneesturm. Alles würde etwas langsamer gehen, der Verkehr auf den Straßen, die Menschen auf den Gehsteigen, die Maschinen der Fabrikationshallen . . . - Alle kämen zu spät, die Lkws drängen nicht mehr bis Berlin vor, die Kanäle frören zu, Schneewehen auf den Bahngleisen. Eine seltene Ruhe würde in der Stadt einkehren. Nur, weil ein paar Flocken vom Himmel fielen.

Als Herr D. am Abend heimkam, war der Hügel vor dem Haus voller Kinder, die ihre Schlitten den Berg hinaufzogen. Oben warteten die Mütter in kleinen Gruppen und rauchten und sorgten sich um den heulenden, schneeverklebten Nachwuchs. Und als er am Abend aus dem Philharmoniekonzert heimkehrte, längst nach Mitternacht, da war noch immer Leben auf dem Schneehügel, da hörte er Lachen und Rufen, jemand schien Saxofon zu spielen, und als er oben beim Denkmal stand, hatte sich eine Art Alpenverein dort versammelt, rodelte und trank Glühwein, während ein bärtiger Mann ins zwei Meter lange Alphorn blies. Mitten in Berlin.

Am nächsten Morgen schien die Sonne. Herr D. wusste nicht, wohin ihn sein Winterausflug führen sollte. Also kramte er den alten Stadtplan hervor, auf dem der "Osten noch der Osten war und der Westen noch der Westen" - wie sein Chef es etwa alle zwei Tage formulierte. D. fuhr mit dem Finger über die Karte, die aus den zehn Kilometern von Stadtrand zu Stadtrand einen überschaubaren Meter machte. Er dachte an den Grunewald, das erinnerte ihn an Grindelwald. Aber dann fand er die Müggelberge, den Teufelsberg und die Rehberge, und zu diesen Rehbergen fuhr praktischerweise "seine" Linie, die violette, die an der Haustür vorbeikam.

Allerdings waren die Rehberge, unter denen er sich ohnehin nur ein paar sanfte Hügel und kein Matterhorn vorgestellt hatte, überhaupt keine wirklichen Berge. Herr D. sah darin eher eine Schneise, eine große Wiese als einen Berg. Auf dieser Wiese hatte sich offenbar halb Berlin versammelt, um Wintersport zu betreiben. Da rutschten die Menschen auf funkelnagelneuen Langlaufskiern durch die Landschaft und stießen kleine Atemwölkchen vor sich her, hatten tief liegende Rennrodel über der Schulter wie Offizier Hackl und schützten die Ohren mit Stirnbändern wie Ingemar Stenmark.

Herr D. war der einzige, der ohne Sportgerät, Kind oder zumindest Hund unterwegs war. Er folgte unauffällig dem Mann mit den Schlittschuhen, und als er plötzlich die verschneite, sonnenlichtüberflutete Fläche eines Sees zwischen den Bäumen auftauchen sah, an dessen Rand mit sibirischen Fellmützen ausgerüstete Angler Löcher ins Eis bohrten, während auf dem Spirituskocher der Grog dampfte, an dessen gegenüberliegendem Ufer die Jungen mit dem Besen das Eis fegten, um zwischen den Betonstegen der alten Badeanstalt eine Eishockeyfläche blank zu polieren, in dessen Mitte Mädchen erste Pirouetten drehten und Männer mit Pudelmützen, einen Arm auf dem Rücken, einsam übers Eis glitten, da lächelte Herr D. und dachte, dass auch Berlin ganz romantisch sein konnte, so kurz vor Weihnachten.

Frankfurter Rundschau - 2001
© Hans W. Korfmann

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