Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Die fünfzigköpfige, hundertäugige Schlange

Herr D. macht Bekanntschaft mit Albträumen auf dem Arbeitsamt und redet mit seinem Ohrenarzt, bis er wieder hören kann

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Manchmal durfte Herr D. den Schreibtisch verlassen. Um Botengänge zu erledigen. Andere Kollegen sahen darin eine Art Diskriminierung, Herr D. aber war lange genug im Büro, um die Dienstgänge als Abwechslung zu empfinden. Auch dann, wenn Sie vom Auswärtigen Amt aufs Bezirksamt führten.

Gut gelaunt stieg Herr D., die dicke Mappe unter dem Arm, die Treppen hinauf, bis er im dritten Stock auf eine Menschentraube stieß. Hier befand sich das Arbeitsamt, schlecht gelaunte Menschen standen in langen Schlangen vor den Türen. Herr D. sagte "Entschuldigung", "Darf ich bitte mal durch", "Könnten Sie mal Platz machen", und nach einem Blick der fünfzigköpfigen und hundertäugigen Schlange auf Herrn D., der hier ganz offensichtlich nichts oder anderes zu suchen hatte, als die zukünftigen Sozialhilfeempfänger, öffneten sich widerwillig kleine Spalten in den Menschenketten. Auch Herr D. ahnte, dass er hier fehl am Platz war, und er erinnerte sich der Schlagzeile, die er kürzlich in der BZ gelesen hatte: Mann ging mit Axt auf das Arbeitsamt los. Auch in der Menschenschlange war der wütende Mann ganz offensichtlich nicht in Vergessenheit geraten: "Das war nicht der Letzte, der hier mit der Axt rein is, das sag ich euch", prophezeite eine Dame um die Fünfzig. Es war die Verkäuferin von Karstadt, bei der Herr D. sich samstags gelegentlich seine Schokoladentrüffel holte, ein hoffnungsloser Fall für die Vermittler. Sie sagte: "Wenn das hier so weiter geht, bin ich die Nächste, die hier mit der Axt reinkommt. Erst steht man sich dreißig Jahre in der Süßwarenabteilung die Beine in den Bauch, und dann steht man für Almosen in der Warteschlange." Die fünfzig Köpfe der Schlange nickten.

Herr D. kam sich vor wie in einem schlechten Film. Er begann, sich unwohl zu fühlen, doch da sah er am Ende des Ganges das ersehnte Zimmer des Kollegen. Da hörte er neben sich eine erregte Frauenstimme. Herr D. sah sich um und blickte in die schwarzen Augen einer schwarz gekleideten, schwarzhaarigen, schwarz geschminkten Frau, die mit ihren langen, schwarzen Fingernägeln vor seinem Gesicht herumfuchtelte. Herr D. hielt nichts von Begegnungen der dritten Art, aber sie sagte: "Ihr Gesicht vergesse ich nicht! Ich habe sie gestern Nacht gesehen. In meinem Albtraum." Herr D. bemerkte, wie die ohnehin schon düsteren Mienen der Umstehenden sich restlos verfinsterten. "Lassen Sie mich bitte durch!", flehte Herr D., beschleunigte die Schritte und beschloss, das Zimmer seines Kollegen im Bezirksamt nicht eher wieder zu verlassen, als bis diese Schlangen sich aufgelöst hatten.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, ließ der Kollege die Unterlagen sinken, gestikulierte wild mit den Armen und schien in eine verbale Freudensverkündung auszubrechen. Doch Herr D. vernahm seine Stimme wie aus weiter Ferne. "Wie bitte?", sagte Herr D., "Ich verstehe Sie kaum!" Wieder sah Herr D., wie der Mann hinter dem Schreibtisch die Lippen bewegte, aber er hörte nichts. Herr D. fragte sich gerade, ob er vielleicht tatsächlich nur eine Figur aus dem Albtraum einer Arbeitslosen war, da hörte er seinen Kollegen schreien: "Sagen Sie, hörn Sie schlecht?"

Am Nachmittag stand Herr D. selbst in der Schlange. Die Praxis des Hals-Nasen-Ohren Professors erfreute sich in der regenreichen Jahreszeit eines regen Besucherverkehrs. Die Sprechstundenhilfe sagte ständig: "Zehn Euro bitte!", und die Patienten antworteten ständig: "Wie bitte?" - "Zehn Euro Praxisgebühr", ergänzte die Sprechstundenhilfe in doppelter Lautstärke. "Oder eine Überweisung von ihrem Arzt..." - "Ach so..." antworteten die Patienten. Als Herr D. an der Reihe war, legte er wortlos seinen Obolus auf den Tresen. "Na, Sie sind ja doch noch lernfähig", sagte die junge Frau hinter der Theke und lächelte ihn an. Herr D. verstand nicht, was die Gehilfin des Professors sagte, aber intuitiv fragte er sich, warum eigentlich alle Sprechstundenhilfen blond waren. "Haben Sie einen Termin?", fragte sie nun etwas lauter. Herr D. schüttelte den Kopf. "Und wo juckt der Schuh?"- "Im Ohr", sagte Herr D. und nahm Platz.

Als Herr D. nach zwei Stunden das Ordinationszimmer betrat, dessen Wände überdimensionale Plastikohren, Nasengänge und Rachen zierten, und in das strenge Gesicht mit der Lampe auf der Stirn blickte, hatte er Herr D. das deutliche Gefühl, einen Zeitsprung rückwärts zu absolvieren. "Wie geht's?", fragte der Professor in einem Ton, als hätten sie zusammen hinter den Schultischen gesessen. "Mein Ohr ist verstopft", sagte Herr D. Der Professor knipste die Lampe auf seiner Stirn an und bog den Kopf des Herrn D. zur Seite. Hmm..", sagte der Professor, "hmm..." und am Ende "tja... also... tja..." Das kleine Herz des Herrn D. begann zu lautstark zu klopfen. Dieser Tag war kein guter Tag. Erst seine Trüffelverkäuferin von Karstadt auf dem Arbeitsamt, dann die Frau aus der Gruft, die ihn in ihrem Albtraum vorausgesehen hatte, und jetzt das. Herr D. wäre nicht überrascht gewesen, wenn der Professor ein gebratenes Hähnchen aus seinem Ohr gezogen und als Ursache der Verstopfung präsentiert hätte.

Es war nicht ganz so schlimm. Der Arzt fragte: "Waren Sie einmal Schwimmer?" Herr D. kam aus dem Staunen an diesem Tag nicht heraus. "Wie kommen Sie denn darauf?" - "Sie haben die typischen engen Gehörgänge." - "Wollen Sie damit sagen, dass Schwimmer enge Gehörgänge bekommen, weil sie so viel im Wasser sind." - "Wieso, warum, weshalb - das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie Schwimmer waren. Stimmt's?" - "Stimmt", sagte Herr D. "Und jetzt putzen Sie bitte mein Ohr sauber!", sagte der Patient. Der Professor spülte das Ohr mit warmem Wasser - für zehn Euro. "Können Sie mich jetzt hören?", fragte der Doktor. Herr D. nickte dankbar, zumindest zum Teil war die Welt jetzt wieder in Ordnung.

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

zurück