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Die Stille nach dem Flopp

Wie Herrn D. alles schleierhaft erscheint, er schließlich seinem Ohrenarzt einen Besuch abstattet und sich dort ganz und gar nicht heldenhaft benimmt

Von Hans W. Korfmann

Herrn D. schmerzte das Ohr. Es schmerzte sehr, dass er noch am nächsten Tag beschloss, seinem Ohrenarzt einen weiteren Besuch abzustatten. Im Haus traf er eine Frau mit einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht. Einen Moment lang glaubte Herr D., im Jemen gelandet zu sein, aber es war nur die Nachbarin auf dem Weg zu einer Beerdigung. Er hatte Frauen in dieser Aufmachung bisher nur im Kino gesehen.

"Wer ist denn gestorben?" fragte Herr D.

"Ach, nur ein alter Freund von mir. Aber irgendwann muss man seine Garderobe ja auch einmal lüften, nicht wahr."

Es war kein guter Tag, die Praxis war überfüllt, es gab kaum noch Sitzplätze, und wer ohne telefonische Anmeldung kam, musste wieder gehen. "Es ist mir egal, ob das ein Notfall ist. Es gibt auch noch das Krankenhaus", sagte die sichtlich erschöpfte Frau am Counter zu einer jungen Frau mit Kind auf dem Arm. Aber die Frau mit dem kranken Kind war gegen blökende Praxisgehilfinnen resistent. "Also, wenn Sie mit den Deutschen auch so umgehen, dann ist die Praxis bald leer", sagte die junge Mutter und hatte damit zumindest die halbe Praxis auf ihrer Seite.

Herr D. hatte sich telefonisch angemeldet, weshalb man ihn nicht wieder heimschicken konnte. Allerdings wies man ihn darauf hin, dass er mit einer Wartezeit von mindestens zwei Stunden rechnen müsse. Dann sagte die HNO-Hilfe: "10 Euro bitte." Herr D. schob den Schein rüber: "Hals-Nasen-Ohrenärzte scheinen ja eine regelrechte Marktlücke zu sein!", murmelte er und setzte sich in eine stille Ecke, in der Kinder aus Schaumstoff mit Begeisterung meterhohe Türme bauten. Während die Kinder spielten, schienen sie sämtliche Ohrenschmerzen sofort zu vergessen. Zaghaft griff auch Herr D. nach den Spielsteinen und hörte erst wieder damit auf, als er bemerkte, wie sämtliche Mütter seine ungeschickten Versuche verfolgten.

Er gestattete sich, nun seinerseits die Mütter zu betrachten: dunkelhäutige, dunkeläugige, in dunkle Gewänder gekleidete Frauen, die plötzlich nervös an den Enden ihrer Kopftücher zu zupfen begannen. Als Herr D. nach Berlin gekommen war, empfand er diese Tücher als exotisch und sah in ihnen einen multikulturellen Teil des Berliner Stadtbildes. Irgendwann aber hatte er sich an Berlin gewöhnt und fand sie eher langweilig, auch, wenn er hin und wieder Frauen entdeckte, die mit raffinierten, feinen Tüchern weniger von ihrem Gesicht verhüllten als enthüllten. An diesem Tag aber wollte er keine Schleier mehr sehen. Vielleicht lag es an diesem türkischen Mädchen aus der Nachbarschaft, das sich geweigert hatte, ein Kopftuch zu tragen, woraufhin sie der Bruder hinrichtete. Vielleicht lag es aber auch am Fieber. Herr D. sah ohnehin alles verschleiert, es wurde ihm allmählich zu viel mit den Schleiern, und außerdem fragte er sich, warum diese gesunden Kinder alle vor ihm aufgerufen wurden, obwohl er vor Schmerzen fast vom Stuhl fiel.

Irgendwann vernahm er aus der Ferne seinen Namen. Wieder begrüßte der Arzt ihn in diesem Tonfall alter Schulfreunde. Wenigstens sprach er nicht im Pluralis Medicinalis und erkundigte sich mit dieser nervenaufreibenden Floskel: "Na, wie geht's uns denn heute?", nach seinem Befinden. Er fragte: "Was führt Sie zu mir?"

Herr D. versuchte, sich das Gesicht des Arztes vorzustellen, wenn er nun begänne, ausführlich von Schmerzen im Knie zu erzählen, und er fragte sich, ob der Mann in Weiß dann immer noch in diesem freundschaftlichen Tonfall sprechen würde, aber Herr D. war eben nur ein kleiner Beamter, Herr D. war kein Held, und er sagte ganz einfach: "Mein Ohr!" - "Haben Sie Fieber?", fragte der Arzt. - "40", sagte Herr D. - "Gut", sagte der Arzt. Herr D. verstand diese Antwort nicht.

Der Arzt rückte Herrn D. auf dem Stuhl zurecht, bog den fiebrigen Kopf in die gewünschte Position und sah ohreinwärts. "Verstopft!", sagte er. - "Was??", rief Herr D. "Schon wieder? Das hab ich doch gerade für 10 Euro putzen lassen, Herr Doktor."

"Sie müssen aber jetzt ganz still halten." Der Doktor führte den Sauger ins Ohr und begann, zu saugen. Trocken! Und Herr D. hielt ganz still. Bis es plötzlich "Flopp" machte. "Flopp", so als hätte man irgendwo einen Stöpsel rausgezogen. Oder als wäre man beim Absaugen des Sofas mit dem Rohr zu nah an ans Polster gekommen, das nun zur Hälfte im Staubsauger verschwunden ist. Herr D. zuckte zurück, der Sauger heulte auf, und der Arzt sagte: "Verdammt!"

Herr D. dachte: "Das war mein Trommelfell! Jetzt hat er mein Trommelfell weggesaugt!"

Der Arzt sagte: "Ich habe ihnen doch gesagt, dass Sie still halten sollen!"

Herr D. dachte: "Jetzt versucht er, mir die Schuld zu geben!"

Der Arzt fragte: "Warum sagen Sie denn nichts mehr?"

Herr D. sagte: "Mir ist schlecht."

Es war kein guter Tag. Als Herr D. endlich wieder auf der Straße stand, ließ das Dröhnen im Ohr langsam nach. Es machte einer großen, unendlichen Stille Platz. Herr D. hörte nichts mehr auf seinem rechten Ohr, nicht einmal den klingelnden Radfahrer, der sich ihm näherte. Ein Arm zog ihn im letzten Augenblick von der schmalen Bahn der rasenden Radfahrer. Erstaunt blickte Herr D. in das freundlich lächelnde Gesicht einer jungen Frau und verwarf all die unfreundlichen Gedanken des heutigen Tages. Die Frau trug ein Kopftuch.

Frankfurter Rundschau - 2005
© Hans W. Korfmann

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