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Ein Glas in 20 Minuten

Wie Herr D. beim Senfkauf Höhen und Tiefen einer Liebesbeziehung erlebt

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Natürlich gehörte Herr D. auch zu jenem gemeinen Teil der Menschheit, der gerne Würstchen aß. Seit seiner Kindheit schon, seit den ersten Kindergeburtstagen und den ersten Ausflügen zu Großveranstaltungen mit Würstchenverkäufern. Im Grunde nahm er an diesen familiären Sonntagsausflügen nur wegen dieser Würste teil. Und Herr D. empfand kein Schamgefühl. Schließlich aß sogar der Kanzler ab und zu eine Currywurst. Behauptete er zumindest. Um seine Verbundenheit mit dem kleinen Mann zu demonstrieren. Es gab ja sonst kaum Berührungspunkte zwischen ihm und den kleinen Männern und Frauen.

Herr D. also war den Würsten treu geblieben, und da er von seiner Wohnung aus einen so schönen Blick über die Stadt hatte, links das Westberliner Brandenburger Tor, rechts der Ostberliner Leuchtturm, hatte er am 31. Dezember einige Nachbarn und Kollegen eingeladen. So wie jedes Jahr. Und natürlich gab es Sekt und Wein, Kartoffelsalat und Würstchen. Wie jedes Jahr. Und Senf.

Sekt und den Wein kaufte Herr D. bei Aldi, Kartoffelsalat und Würstchen auch. Und wenn am Abend die Leute behaupteten, dass es ihnen schmecke, dann sagte Herr D. jedes Mal: "Aldi!" Das kam immer gut an, galt aus irgendeinem Grund als besonders clever. Vielleicht, weil sich so viele Professoren und Intellektuelle als Aldikunden geoutet hatten.

Also kaufte Herr D. alles nur Erdenkliche bei Aldi. Auch den Senf. Senf in der schnöden Tube. Nur dieses Jahr nicht. Dieses Jahr hatte er gleich ein ganzes Regiment von Senf auf den Tisch gestellt: Himbeersenf, Bananensenf, Colonialsenf mit Kakao und Kaffee, Toskanasenf mit Kräutern der Toskana...

Denn vor Kurzem war Herrn D. ein Haus aufgefallen, dessen von einem Scheinwerfer angestrahlter Farbanstrich deutlich von allen anderen Anstrichen in der Straße abwich. Er konnte sich erst nicht erinnern, woher er diesen Farbton kannte, aber dann erinnerte er sich schlagartig: Die Fassade sah aus, als hätte man sie mit Senf beschmiert. Herr D. näherte sich neugierig. Auch im Souterrain des Hauses waren die Wände senfgelb gestrichen, das Laminat im so genannten "Senfsalon" war ohnehin schon senfgelb, und der Senf in den Regalen auch. Allerdings war die würzige Ware so geschickt beleuchtet, dass es aussah, als ginge in diesen Gläsern gerade die Sonne auf.

Da kam die Verkäuferin. Sie war nicht senfgelb. Im Gegenteil, sie hatte rote Bäckchen und lächelte ihn an. Herr D. lächelte zurück, so gut er konnte. Nicht, dass ihm die roten Bäckchen nicht gefallen hätten, sie harmonierten wunderbar mit dem Gelb um sie herum. Und wann schon sah man in diesen schlechten Zeiten schon so frohlockend rote Bäckchen?

Herr D. war regelrecht verwirrt und errötete ein wenig. Die Frau schien es zu bemerken und wollte ihm zu Hilfe kommen:"Was darfs denn sein, der Herr?" fragte sie und lächelte wie eine Kinderärztin, kurz bevor sie dem Nachwuchs die Spritze in den Arm rammte. Die Frage war wenig hilfreich und auch wenig originell, denn es gab nichts anderes hier. Weshalb Herr D. zwar etwas unbeholfen, doch weitaus origineller antwortete: "Senf!"

"Na, Sie sehen ja. Alles voll damit. Sie können sich ja umsehen." Als die Senfverkäuferin ihm den Rücken zuwandte, empfand Herr D. einen kleinen Stich im Herzen. Die Frau mochte ihn nicht. Aber er mochte sie. Womöglich hatte er sich soeben verliebt. Vom ersten Augenblick an hatte er dieses seltsame Gefühl gehabt, dass sie sich schon seit ewigen Zeiten kannten. Wahrscheinlich hatten sie früher einmal, auf einem dieser Kinderfeste vielleicht, nebeneinander an einem Würstchenstand gestanden und ihre Würste in Senf.... - Herr D. begann zu fantasieren.

"Und? Haben Sie schon etwas gefunden?" fragte die Verkäuferin, als sie sich nach zwanzig Minuten wieder ihrem Kunden zuwandte, der, mit einem Glas Toskanasenf in der Hand, noch immer die Regale abmarschierte. "Ähem...", stotterte Herr D. und sah auf ihre roten Bäckchen. Kein Zweifel: Er war dieser Frau schon einmal begegnet - dieser strahlenden Verkörperung des Optimismus.

"Sagen Sie, haben wir uns nicht schon einmal irgendwo gesehen?" Augenblicklich hatte Herr D. das Gefühl, diesen Satz schon einmal gehört zu haben.

"Dass Sie mich gesehen haben, kann schon sein. Aber ich hab Sie bestimmt noch nie gesehen", sagte die Frau mit den roten Bäckchen. "Ist das alles? Ein Glas in zwanzig Minuten?"

Also wandte sich Herr D. noch einmal den Regalen zu, und da plötzlich stieß er auf ein Bild an der Wand. Es war eine ganzseitige Anzeige in der Zeitschrift Stern, und neben der Frau mit den roten Bäckchen stand ihre Kollegin, die Bundesministerin. Und beide Frauen standen neben ein paar Gläsern mit Senf und sahen furchtbar optimistisch in die Kamera, die die Welt darstellen sollte.

Herr D. war enttäuscht. Er kannte sie also doch nicht vom Würstchenstand der Kindheit. Er liebte sie doch nicht. Obwohl er eine gewisse Bewunderung empfand für die Frau, die aus diesem schmierigen Klecks auf dem billigen Pappkarton, aus diesem graugrünen Häufchen neben der schnöden Bockwurst, aus dem deutschen Äquivalent zum verhöhnten amerikanischen Ketschup doch tatsächlich Kapital zu schlagen vermochte. Und die mit ihrem blöden Bananensenf zum Superstar der Ich-AG-Reklame der deutschen Bundesregierung avancierte. Zur Märchentante, die allen erzählte sollte, man bräuchte nichts als eine gute Idee, und dann würde alles schon wieder gut im Staate Deutschland. Merit Schambach, die deutsche Fassung der Legende vom Tellerwäscher...

"Toller Senf!" sagten am Abend die Gäste. "Auch von Aldi?" Herr D. schüttelte den Kopf. "Ach, das ist eigentlich eine traurige Geschichte..."

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

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