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Fremde Warenwelt


Herr D. ist auf einem ostalgischen Geburtstagsfest in eine Laubenpieperkolonie

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Eigentlich war Herr D. kein Freund von Schrebergärten. Auf seinen kleinen Radtouren durch die Stadt hatte er immer wieder mit Verwunderung festgestellt, dass die Hauptstädter mit ihren fähnchengeschmückten Miniatureigenheimen und der privaten Liegewiese nicht weniger provinziell und lokalpatriotisch waren als die Sachsen oder die Odenwälder. Aber als sein Nachbar ihn zu seinem fünfzigsten Geburtstag einlud, blieb ihm eigentlich keine andere Wahl, sollte der Mietshaussegen nicht die nächsten Monate schief hängen. Herr D. blickte in die erwartungsvollen Augen seines Nachbarn, der noch schnell hinzufügte: "Und du bist auch nicht der Einzige von hier. Der Schulz kommt auch!"
Schulz kam aber nicht, und Herr D. war der einzige Wessi mitten in einer gigantischen Schrebergartenkolonie mitten im tiefen Osten. "Das ist mein Nachbar!", rief der stolze Fünfzigjährige nun seinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen zu, kaum dass Herr D. aus dem Schatten des Birnbaums trat. Alle standen mit Bierkrügen in der Hand um den Grill herum und sahen ihn an. Sein Nachbar war diplomatisch und versuchte es mit einem Scherz, aber keiner lachte. Auch D. fiel das Lachen schwer. Aber immerhin reichten die Freunde seines Mitmieters ihm der Reihe nach die Hand, entweder ein wenig gelangweilt und brav wie in der Volksschule vor fünfundvierzig Jahren, oder aber postsozialistisch locker und kollegial, um sich im nächsten Augenblick doch möglichst unauffällig erst einmal einen Meter vor dem Unbekannten zurückzuziehen und dann wie zufällig jemanden zu treffen, den man seit ewigen Zeiten nicht gesehen hatte.
Dabei war sich Herr D. eigentlich sicher, dass dieses Fest kein außergewöhnliches war, dass es diese Feste zur Konservierung der alten Zeiten, diese Treffen der DDR-Veteranen, im Sommer ständig gab.
Herr D. beschloss, sich mit einem Bier zu trösten. "Das steht im Kühlschrank, bediene dich nur. Wir haben ja jetzt alles." Doch vor dem Kühlschrank in der Küche des kleinen Schrebergartenhäuschens mit seinen zwei Zimmern, Teppich und Sofa im Wohnzimmer und Antenne auf dem Dach, standen noch mehr Menschen als draußen im Garten. Allerdings standen sie nicht um Bier oder Wurst an, nein, sie betrachteten das Kühlgerät selbst. Es handelte sich nämlich um ein altes Stück aus dem Osten, inzwischen ein wenig vergilbt, einst aber der Schmuck eines jeden besser gestellten Haushaltes.
Herr D. zögerte noch, die in Andacht versunkene Gemeinde vor dem Prunkstück des Kombinats aufzustören, doch dann wurde die Frau des Nachbarn, die mit der Hand den Plastegriff streichelte, auf ihn aufmerksam: "Ach, unser Nachbar ist ja auch da. Das ist aber schön. Du willst doch sicher ein Bier?" Augenblicklich teilte sich die Schar der Bewunderer in zwei Hälften und öffnete einen breiten Durchgang zum Kühlschrank. Herr D. verstand endlich, was es heißt, Spießruten zu laufen.
Später, als er mit einigen Gästen vor einem leicht ergrauten Farbfernseher stand, der zwar ausgeschaltet war, aber dennoch die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden erregte, wagte Herr D. eine Bemerkung: "Ja, ich habe nun mal leider keinen Garten. Sonst hätte ich meinen alten Philips auch nicht weggeworfen." Der Lapsus katapultierte die fröhliche Geburtstagsgesellschaft augenblicklich in die Zeiten des Kalten Krieges zurück, das Schweigen war eiskalt, D. fröstelte. Das Gerät war ein echter "Robotron", versehen mit acht Knöpfen für acht verschiedene Sender, ein Luxusartikel. "Der hat einmal fast so viel gekostet wie ein Trabi", sagte ein Kollege, der so grau war wie der Fernseher, blickte zuerst siegessicher in eine kopfnickende Runde und anschließend tadelnd auf einen angeknickten Herrn D.
" Und guck mal da, das ist doch so eine Brotschneidemaschine, wie wir die auch mal hatten. Die hatten Schnitten geschnitten, sag ich dir, ganz präzise." – "Und dann schön dick Leberwurst drauf, was!" – "Genau."
So sehr Herr D. sich auch bemühte, sich wohl zu fühlen bei seinen Brüdern und Schwestern aus dem ehemaligen Osten, er fühlte sich nicht wohl. Am Grill nicht, wo sie Broiler verteilten, im Garten nicht, wo die Fünfzigjährigen mit der Klampfe wie die Pfadfinder im Kreis lagerten und alte Kampflieder anstimmten. Am Tisch mit den Schnäpsen nicht, wo es nur politisch Korrektes aus Kuba oder Russland gab, und vor den Kuchen nicht, die allesamt "selbstverständlich nach Ostrezept" gebacken worden waren. Auch als der Nachbar Herrn D. am Arm nahm und durch sein nostalgisches Museum führte, ihm Blumenvasen, Waschbretter, den Rasenmäher, das Transistorradio und die Plattensammlung zeigte, alles das, was er aus seiner neuen Wohnung im Westen hatte auslagern müssen, fühlte sich Herr D. nicht wirklich besser. Auch nicht, als der Nachbar ihm flüsternd anvertraute: "Weißt du, wir sind ja die Einzigen, die sich in den Westen getraut haben. Die andern sind alle drüben geblieben."
Doch auch irgendwann war auch dieser Abend im Schrebergarten vorüber, und am nächsten Morgen, als Herr D. sich wieder auf sein Fahrrad setzte, legte die Frau des Nachbarn ihm die Hand auf die Schulter. Sie bewies ein gewisses Einfühlungsvermögen für den einsamen Wessi, als sie sagte: "Mach dir nichts daraus. Ich weiß ja, wie das ist. Ich wohn ja nun auch schon seit fast zehn Jahren in ’nem Haus mit lauter Wessis." Und setzte hinzu: "Aber jetzt siehste wenigstens mal, wie das is."

Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann

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