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Herr D. hat Besuch

Die Berliner reden sogar mit einem Fremden, wenn er ein Kind spazieren trägt

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Herr D. wachte auf. Er verspürte ein leichtes Grummeln im Magen. Es war Wochenende, Besuch aus der alten Hauptstadt hatte sich angekündigt. Man wollte die neue Hauptstadt kennen lernen. Ausgerechnet an diesem Frühlingstag, an dem die Stadt unter Nebelschleiern lag, so dass nichts auf der Welt so hoffnungslos aussah wie dieses Berlin mit seinem ständigen Nieselregen und seinen ewigen zwei Grad plus.

Der Tiergarten war eine Baustelle, der Wannsee lag unter Nebelschleiern, zum Reichstag gingen sowieso alle, selbst der Teufelsberg mit seiner verlassenen Radarstation war an solchen Tagen menschenleer. D. dachte daran, sich einen Reiseführer zu besorgen. Der hätte ihm die Stadt einmal von einer ganz anderen Seite zeigen können. Selbst Menschen, die fünfzig Jahre in irgendeinem trostlosen Winkel im Harz oder im Odenwald wohnten, wunderten sich beim Blick in einen Reiseführer, wie nett es eigentlich in ihrem Heimatort war.

Doch D. verwarf den hinterhältigen Plan. Der Besuch würde nicht ohne den eigenen Reiseführer in der Tasche anreisen. Von ihm aber erwarteten sie Exklusives: Ihr alter Freund D. sollte sie in die entlegensten, geheimnisvollsten Winkel Berlins führen. Vielleicht gehen wir einfach mal zum Ku'damm, schlug er deshalb vor. Der Besuch zog die Stirn in Falten. "Gedächtniskirche, Ku'damm, Bahnhof Zoo. Wir können ins KaDeWe gehen, da regnet es nicht."

Der Besuch wandte ein, dass Anna sich nicht wohl fühle in Kaufhäusern. Anna war im zarten Alter von fünf Monaten. Anna lächelte D. an, und D. lächelte zurück, so gut er konnte. Wahrscheinlich würde ihr das Lächeln bald vergehen. Denn bei diesen Menschen hier funktionierte das nicht: Einmal grinsen, und schon grinsen alle zurück. Nicht mit den Berlinern, nicht bei zwei Grad plus und Nieselregen.

"Wo ist denn hier eigentlich die Mauer?", fragte plötzlich der Besuch. D. überlegte. Er hatte noch nie etwas von der Mauer gesehen. Nur auf Fotografien. Man hatte das Mahnmal des Kalten Krieges lückenlos entfernt. "Na ja, wir können ja losgehen und unterwegs jemanden fragen!", sagte der Besuch. D. riet davon ab. Er formulierte es dezent: Die Berliner seien manchmal etwas wortkarg. Dann fiel Herrn D. doch noch etwas ein: diese East Side Gallery! Ein Stück Mauer, irgendwo im Osten. Ostbahnhof, wenn er sich recht erinnerte. Eine finstere Gegend. Die Berliner Bronx, hatte sein Chef gesagt. Aber wenn der Besuch unbedingt die Mauer sehen wollte: Bitte!

Also marschierten sie los, über die Oberbaumbrücke und die Spree, vom einstigen Westen in den einstigen Osten, über die schiefen Granitplatten, an den Industriebrachen vorüber, immer trostloser wurde das Gelände, immer dichter der Nebel, und die Mauer kam nicht in Sicht. "Sagen Sie, wo ist denn hier die Mauer?", fragte der Besuch einen bärtigen Mann, der plötzlich aus dem Nebel auftauchte. - "Hier sind lauter Mauern. Weeß ick doch nich, wo hier die Mauer is." Herr D. empfand bei dieser Antwort so etwas wie Genugtuung. Er hatte die kleine Anna auf dem Arm und lief ganz hinten im Tross, der unter den grauen Regenschirmen wie eine Delegation von Westagenten aussah, die zur Glienicker Brücke marschierte.

Noch zweimal fragte der Besuch vergeblich nach dem Weg. Dann tauchten einige wegelagernde Punks mit schwarzen Hunden und silbernen Ketten auf. Der Besuch ging schnell vorüber, D. aber erkannte die Gelegenheit. Die jungen Leute waren viel freundlicher, als der Besuch gedacht hatte, und erklärten den Weg gleich zweimal. D. hatte den Euro schon in der Hand, D. kannte sich aus in der Stadt. "Die Berliner sind nur freundlich, wenn sie etwas dafür kriegen", erklärte D. seinem Besuch. "Reden tun sie eigentlich nie. Jedenfalls nicht mit Fremden."

Endlich stand Herr D. mit seinem Besuch und Anna auf dem Arm vor der bunten Mauer, da hörte er hinter sich eine Stimme. "Ei, ei, ei . . ." D. drehte sich um. Eine alte Frau mit einem Dackel an der Leine streichelte Annas Hand. "Ei, ei, ei . . . Das ist aber ein schönes Kind! Ein Mädchen? Ei, ei, ei . . ." Die alte Frau hatte glänzende Augen, und auch Anna strahlte wie an Weihnachten. "Das ist mir noch nie passiert, dass mich jemand hier auf der Straße anspricht", lachte Herr D. auf dem Heimweg und hob die Schultern.

Vor dem Bahnhof aber war es eine junge Frau, die plötzlich mit der kleinen Anna zu flirten anfing, und eine ältere Dame in einem Pelzmantel blieb kurz stehen, um das Kind mit Gottes Segen auszustatten. In einem Kaufhaus, wo Herr D. eine Zeitung kaufen wollte und sich in die unendliche Samstagsschlange einreihte, wollte man ihn unbedingt vorlassen, und die Kassiererin begann, Annas rote Backen zu streicheln: "Das ist aber ein aufmerksames Kind!" Am Ende musste Herr D. sogar dem Busfahrer erzählen, dass Anna fünf Monate, ein Mädchen und nur zu Besuch in Berlin da sei.

Es war ein gelungener Spaziergang. Der Bonner Besuch fand, dass Berlin eine ganz außerordentlich freundliche Stadt sei. Sogar bei diesem Wetter. Herr D. war still geworden und betrachtete nachdenklich diese kleine Anna. Er konnte nichts Besonderes an ihr entdecken. Es musste an den Berlinern liegen.

Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann

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