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Reitende Geldboten im Abendlicht

Herr D. wird in seiner Postfiliale ungenügend betreut und beginnt zu fantasieren

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Herr D. hatte tapfer durchgehalten. Als alle anderen schon stöhnten, verzog Herr D. noch keine Miene. Sensationsmeldungen und Superlative in Zeitung, Funk und Fernsehen ließen ihn eiskalt. Aber eines Tages musste auch er einsehen, dass es heiß geworden war in seinem Büro, sogar Gummibaum und Philodendron erweckten den traurigen Eindruck, als seien sie diese Temperaturen nicht mehr gewohnt. Herr D. machte langsam schlapp. Er gähnte, und gerade wollten ihm angesichts des leeren Schreibtisches für fünf Minuten die Augen zufallen, da klingelte das Telefon. Sein Sohn war am Apparat. Sein Sohn rief sonst eigentlich nur zum Geburtstag an. Zu seinem eigenen.

"Papa, ich bin in Italien, und sie haben mir alles geklaut, Papiere, Geld, EC-Karte. Kannst du mein Konto sperren und mir Geld schicken?" Herr D. gähnte. "Wohin?"- "Marina di Carrara." - "Wo ist das denn?" - "Weiß nicht. Aber es geht ganz einfach. Du brauchst nur zur Postbank gehen, einzahlen, gibst ein Codewort an, und fünf Minuten später zahlt man mir das Geld aus." - "Wer zahlt aus?" - "Western Union." Für einen Augenblick sah Herr D. Cowboys, wegen der sengenden Sonne die Hüte tief ins Gesicht gezogen, auf Pferden die staubige Landstraße entlangreiten, Geldbündel in den Satteltaschen, irgendwo heulte die Lokomotive eines Zuges. Die Geldübergabe fand auf einer verlassenen, von gigantischen Kakteen umstandenen Bahnstation statt. "Okay, dann werde ich mich mal in den Sattel schwingen", sagte Herr D. "Danke Papa", sagte sein Sohn.

Zwölf Uhr mittags. Als Herr D. sich über sein Fahrrad beugte und das Schloss öffnete, sah er sie zum zweiten Mal, die Cowboys, die gerade aus dem Saloon kamen, ihre Pferde losbanden und davonsprengten. Aber angesichts des gelangweilten Pförtners verflüchtigte sich die Halluzination. Herr D. gab seinem Stahlross die Sporen, erreichte nach wildem Ritt die Postfiliale und wollte gerade sein Rad abstellen, als ihn abermals eine Sinnestäuschung überraschte: Die gewaltigen Fahrräder der Postmänner und Postfrauen waren nicht mehr gelb, sondern blau. Herr D. ließ sich nicht beirren, zielstrebig, wenn auch etwas steifbeinig vom langen Ritt, betrat er den Schalterraum. Es war menschenleer in der sonst überfüllten Halle. Stille, nur hinter dem Schalter drehte sich leise ein Ventilator. Eine blonde Frau versuchte zu lächeln.

"Meinem Sohn haben sie in Italien das Portemonnaie geklaut. Ich möchte ihm Geld nach Italien schicken. Geht das?", fragte Herr D. Die Frau in der hellblauen Bluse zog die Stirn in unhübsche Falten, Herr D.s Blick glitt auf ihre rechte Brust. Dort stand auf einem dunkelblauen Schild der Name "Mistel". Herr D. erinnerte sich an die blauen Fahrräder, die er draußen gesehen hatte. Wahrscheinlich litt die Post unter einem Innovationsschub. Vielleicht würden sie als Nächstes die Postkästen blau anmalen. Damit die Fahrradfahrer sie nachts besser erkennen konnten.

"Geld schicken?", fragte Frau Mistel. "Western Union", sagte Herr D. Der Frau kam offensichtlich ein Gedanke. Sie kramte in einigen Schubladen und hielt triumphierend ein hellblaues Formular in die Höhe. Darüber stand "Postbank - Minuten Service - Einzahlung" und daneben "Western Union Money Transfer". Ohne genauere Zeitangabe.

"Bitte deutlich ausfüllen", sagte Frau Mistel und ging zurück zu ihrem Ventilator. Herr D. füllte aus und reichte das Formular über die blaue Theke. Sie müssen hier unten noch die genaue Anschrift Ihres Sohnes eintragen. Herr D. trug die genaue Anschrift ein. "Und unterschreiben." Das Faxgerät brauchte eine Weile, um das Formular zu verdauen.

"Und Ihr Sohn hat keinen Ausweis mehr?", fragte die Mistel von der Post und trommelte mit den Fingern einen langweiligen Rhythmus. Herr D. ersparte sich das Kopfschütteln. "Na, mal sehen", sagte die Frau in Blau. "Dann bekomme ich noch 20 Euro von Ihnen." Eine Stunde später - Herr D. an seinem Schreibtisch war gerade eingeschlafen - klingelte das Telefon. Sein Sohn. Man wollte ihm das Geld nicht aushändigen. Ländercode 6913. Die Bank hatte das Geld nicht nach Italien, sondern nach Deutschland überwiesen. Herr D. schwang sich aufs Fahrrad, zweiunddreißig Grad, die Sonne im Zenit.

"Und jetzt?" Die Mistel von der Post sah ihn kurz an: "Ich hab mich schon gewundert, dass Sie da eine deutsche Adresse draufgeschrieben haben. Sie müssen natürlich die italienische Adresse eintragen." - "Warum haben Sie dann nichts gesagt?", fragte Herr D. Leise summte der Ventilator.

Herr D. beobachtete, wie nebenan Buntstifte, Radiergummis und eine pinkfarbene Schultasche über den Ladentisch gingen und wie die Mistel von der Post sehnsüchtig zu ihrer Mitarbeiterin hinüberblickte. Herr D. hatte eine Eingebung: Die Mistel von der Post war eigentlich eine Mistel von McPaper. Man hatte ihr nur ein blaues Hemdübergezogen. Die Mistel war ein Opfer der Fusion. Der allgemeinen Konfusion. Sie war konfus. Es sah aus, als würde die ehemalige Verkäuferin aus der Schreibwarenabteilung von Karstadt jeden Moment in Tränen ausbrechen. Hilfe suchend rief sie nach der Chefin. Die Chefin entschied: "Unser Fehler war das jedenfalls nicht. Wir müssen das noch mal schicken. Kostet noch mal 20 Euro. Haben Sie Ihren Ausweis dabei?" Hatte Herr D. nicht. Herr D. schwang sich aufs Rad.

Als er zum dritten Mal an diesem Tag die Filiale von Post & Papier betrat, lächelte Frau Mistel nicht mehr. Seinen Ausweis könne er stecken lassen. Während seiner Abwesenheit hatte man recherchiert und herausgefunden, dass der Kunde D. das Formular ordnungsgemäß ausgefüllt hatte. Die Chefin nahm einen dicken Stift von McPaper, strich im Formular herum, verwies mit dicken Pfeilen auf die Korrekturen und schickte das Papier zum zweiten Mal auf die Reise.

Sechs Uhr am Abend. Herr D. war längst zu Hause, hatte die Füße in den staubigen Stiefeln auf den Tisch gelegt und einen Whiskey in der Rechten, da klingelte das Telefon. Am andern Ende war die Mistel von McPaper. Herr D. müsse leider noch einmal vorbeikommen. Es fehle eine Unterschrift. Er schwang sich in den Sattel und träumte von galoppierenden Cowboys, Satteltaschen voller Geld - und rauchenden Colts.

Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann

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