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Unter Büchern

Wie Herr D. sich durchs Kulturkaufhaus schlägt und am Ende durch die bayerische Gelassenheit von Gerhard Seyfried entschädigt wird

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Herr D. schlenderte die Friedrichstraße entlang. Er hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, der Straße einmal im Jahr einen Besuch abzustatten, um nachzusehen, welche Firmen ihre Adresse in der noblen Marmorzeile wieder aufgegeben und welche überlebt hatten. Das Lafayette stand noch da, trotz der vielen herabstürzenden Fensterscheiben. Auch die beiden Kulturkaufhäuser von Hugendubel und Dussmann, denen Herr D. keine hohe Lebenserwartung prophezeit hatte. Er hatte erwartet, dass die Berliner ihre Bücher weiter in verstaubten Buchläden und ihre CDs lieber in dunklen Plattengeschäften kaufen würden. Doch da hatte er sich geirrt, sämtliche Buchläden in seinem Viertel hatten im vergangenen Jahr aufgegeben. Dussmann dagegen verkaufte inzwischen auf 6500 Quadratmetern, fünf Etagen und bis 22 Uhr. Damit auch jene, die bis 21 Uhr 30 arbeiteten, in den Genuss von Kultur kommen konnten.
Vor dem Eingang des Kulturkaufhauses spielte ein CD-Verkäufer südamerikanische Musik und ließ die kleinen Scheiben zu Schleuderpreisen über den Tisch gehen, während sich im Erdgeschoss des Kaufhauses das Volk drängte, als ginge es um Socken und Unterhosen beim Sommerschlussverkauf. Tatsächlich gab es kaum ein Buch ohne den rot leuchtenden Punkt mit dem Preisnachlass. Vom Strom getrieben lief Herr D. durch die "Papeterie", verirrte sich ins marmorne "Servicecenter", wo man ihm augenblicklich eine Leihbrille offerierte, stieß auf Menschen, die inmitten des Gewusels Fotobände durchblätterten, in Kochbüchern Rezepte suchten, Romane lasen, einander anrempelten, sich entschuldigten, einander anrempelten, sich entschuldigten, bis er endlich im Stau vor der Kasse zum Stehen kam.
"Sagen Sie, ich suche das neue Buch von Petros Markaris und diesem Kommissar Charitos!", sagte Herr D. zur Frau hinter dem Bildschirm. Herr D. brauchte ein Geburtstagsgeschenk für eine Kollegin. Sie las ständig Kriminalromane und fuhr jedes Jahr nach Griechenland zum Urlauben, um ein bisschen Licht in ihr schattiges Sekretärinnendasein zu bringen. Petros Markaris war die perfekte Geschenkidee. "Wie soll der heißen?", zog die hübsche Blonde die Stirn in hässliche Falten. Dabei war der griechische Autor - wahrscheinlich der Olympiade wegen - gerade auf sämtlichen Fernsehkanälen zu sehen!
In den drei geschlossenen Kreuzberger Buchläden hätten die Buchhändler Herrn D. auf dem kurzen Weg zum Regal eine komplette Inhaltsangabe inklusive Interpretation und dringend Tatverdächtigem zum Besten gegeben. "MARKARIS?", wiederholte die Frau und durchforstete ihren Bildschirm, "Vornähme?" - "Petros!", sagte Herr D. und warf einen vorsichtigen Blick hinter sich. Die Menschen drängten. Herr D. war froh, dass er nicht auf der Autobahn war. "Ah!, da ist er ja!", rief endlich die Blonde, "der müsste doch eigentlich gleich hier vorne stehen!"
Da stand er auch. Vielleicht hatte Herr D. ihn übersehen, weil der rote Punkt fehlte. Petros Markaris war aus irgendeinem Grund - vielleicht der Olympiade wegen - vom Ausverkauf der Kultur vorübergehend ausgenommen. Herr D. zahlte und wollte gehen, da hörte er unten jemanden lachen. Unten, das war der kühle, marmorne Ausstellungsraum des Kulturkaufhauses, und unten stellte ein freundlicher Verlagsverteter gerade seinen Autor vor. Der Autor hieß Gerhard Seyfried und war so etwas wie eine Berliner Kultfigur, ein alternativer Loriot, ein Provokant, dessen Cartoons man in dunklen Kellern Ostberlins mit einem Projektor an die Wand warf, während man sich die Sprechblasen vorlas und in kollektives Gegröle ausbrach. Dieser Mann hatte zu schreiben begonnen. Sein erster Roman sei bereits in der vierten Auflage, lächelte der Buchverkäufer, und heute präsentiere der Autor den zweiten. Die Stühle im kühlen Leseraum waren, wenn nicht von Menschen, so doch mindestens von ihren Handtäschchen oder Tempotaschentüchern besetzt. Herr D. musste stehen.
"Der schwarze Stern der Tupamaros" handelte von München und Berlin, von Demonstrationen, Lederjacken, LSD, der Liebe, dem Untergrund und der "Bewegung 2. Juni", dem "kurzen Sommer der Anarchie" und dem deutschen Vorherbst. Herr D. hatte einen schnellen, aggressiven Text erwartet, vorgetragen im stakkatoartigen Duktus blecherner Demonstrationsdurchsagen. Stattdessen erzählte der Autor mit bayrischer Gelassenheit und sogar mit bayrischem Zungenschlag. Es hörte sich an wie eine Gute-Nacht-Geschichte für Kleinkinder. Herr D. spähte nach Überresten der legendären Szene aus, doch nirgends fand er einen dieser unverbesserlichen Weltverbesserer, die mit ernsten Gesichtern auf den Bänken hockten wie im Hörsaal. Das Publikum trug weiße Socken und Sandalen, geblümte Blusen und graue Hosen, und es hatte Einkaufstüten in der Hand.
"Sie dürfen jetzt Fragen an den Autor stellen", sagte der Buchverkäufer, nachdem ein zaghafter Applaus verklungen war. "Wie nah waren Sie denn wirklich dran an der Bewegung 2. Juni?", fragte ein Mann, der vom schütteren Scheitel bis zur altmodischen Sandale grau war und offensichtlich vermutete, Seyfried erzähle von Geschehnissen, von denen er nichts verstehe. "Warum haben Sie das eigentlich geschrieben?", wollte eine Frau wissen, deren Halstuch immerhin entfernt an ein Palästinensertuch erinnerte. Sie ließ die Vermutung durchklingen, dass der Autor Kapital aus einer Bewegung schlagen wolle, die sich dem Kampf gegen das Kapital verschrieben hatte. Doch Seyfried blieb bayerisch-gelassen und antwortete mit Anekdoten aus dem Leben des Zeichners. Von den ständigen Hausdurchsuchungen etwa, "mehr, als einem lieb sein konnte. Wobei das ja einen Vorteil hatte: Es kamen lauter Dinge wieder zum Vorschein, die man seit Monaten vermisste!" Am Ende der Befragung durch das Publikum fügte er hinzu: "Ich verstehe Sie ja! A bisserl komisch ist das natürlich schon, wenn einer ausgerechnet in diesem Marmorkeller einen Roman über eine Untergrundorganistation liest!"
Endlich meldete sich jemand zu Wort, um dem Autor zu erzählen, wie sie einst sämtliche Sirenen am Kudamm in Aktion versetzten, und Seyfried nickte verträumt: "Ja, das waren die Zeiten, in denen es noch reichte, mit der Fingerspitze die Scheiben der Juweliere zu berühren, um gleich die ganze Straße bimmeln zu lassen!" Plötzlich hörte es sich an wie am Stammtisch. Das Eis im Keller des Kaufhauses schmolz, und als Seyfried noch ein Stückchen aus dem Buch las und von den fünf erschossenen Studenten sprach, von angeblicher Notwehr, obwohl die Polizisten durch geschlossene Türen geschossen hatten, war das Eis zwischen den Linken und dem Autor endgültig gebrochen. Der Applaus war ein richtiger Applaus, und alle waren zufrieden: Dussmann, der Verlag, Seyfried, das Publikum - und auch Herr D. mit seinem Markaris.

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

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