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Unter der Schultheissleuchte

Herr D. ist hungrig, und auf der Suche nach Buletten landet er in einer finsteren Höhle

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Herr D. hatte seine Schritte nur zögernd in das Lokal gesetzt. Obwohl ihm klar war, dass der "Blaue Affe" sicherlich nichts mit dem "Blauen Block" gemein haben würde. Doch der Hunger war so groß, der Regen so anhaltend, und die Gegend so unwirtlich, dass er es wagte. So groß und so finster allerdings hatte er sich den "Blauen Affen" dann doch nicht vorgestellt. Zwar waren die dicken Balken an der Decke und die schwarz geräucherte Wandvertäfelung eigentlich ganz romantisch, und die karierten Tischdecken im hinteren Saal sahen aus wie in einem Wirtshaus, das nicht am Berliner Hermannplatz, sondern im Spessart stand. Allerdings zu einer Zeit, als der Spessart noch ein bisschen finsterer war, und als die Gestalten aus den Wäldern noch finstere Gestalten waren.

Denn wenn Herr D. das deutliche Gefühl hatte, vom Regen des Hermannplatzes in die Traufe des "Blauen Affen" geraten zu sein, dann lag das nicht am Interieur der Kneipe, sondern an den Gesichtern ihrer Gäste. Zuerst sah er die Gesichter nicht, zuerst sah er nur diese leidgebeugten Männerrücken an den runden Stehtischen. Doch als hätten sie geahnt, dass da ein Fremder noch unschlüssig in der Tür stand - ein anderer, einer der nicht hierher passte, der Geld verdiente und den Tag nicht mit einem doppelten Korn begann -, drehten sie sich plötzlich um. Sie fixierten den Ankömmling D. mit einem Gesichtsausdruck, der so undurchdringlich, gleichgültig und nichts sagend war, wie nur Dante Alighieri ihn beschreiben konnte. Dennoch wagte sich Herr D. einen Schritt tiefer in die Vorhölle und warf einen Blick in die gute Stube mit der Schultheissleuchte, den zwei arbeitslosen Arbeitern, die am Tisch unter dem teergelben Ölgemälde eines deutschen Feldweges saßen und ihre Mützen tief bis über die Augen gezogen hatten, sodass sie gerade noch das Bierglas vor sich sehen konnten. Der "Hit im Blauen Affen", wie neben ihnen an der Wand zu lesen war: "Schultheiss 0,4 - 1,75 Euro!!!"
" Ich würde gerne etwas essen", sagte wild entschlossen Herr D. Die Kellnerin erwiderte strahlend: "Kein Problem."
Na also, dachte sich Herr D., ist doch alles gar nicht so schlimm.

"Wir haben Würstchen und Buletten", fuhr die Frau fort. Herr D. sagte: "Die Tischdecken sehen aus, als gäbe es hier mindestens Eisbein oder Linsensuppe." - "Dafür sehen die Gäste so aus, als hätten sie seit Jahrhunderten nichts mehr gegessen. Und sie sehen nicht nur so aus. Die leben von Flüssignahrung. Nee, also Eisbein ist nicht", sagte die Kellnerin.

Die beiden Arbeiter hatten ihre Mützen einige Millimeter angehoben und beobachteten schweigend Herrn D, der sich einen Platz bei dem vergilbtem Vorhang suchte. Dann ergriff der vordere den Knobelbecher, schüttelte und ließ die Würfel rollen. Von irgendwo aus der Tiefe der Hölle ertönte eine Stimme: "Du hast doch eh keen Glück." Der Arbeiter zog die Mütze wieder ein Stück tiefer herunter und sagte, ohne sich nach dem Gesprächspartner umzudrehen: "Was verstehst denn du schon von Glück." Eine andere, wahrscheinlich weibliche Stimme im Saal lachte herzhaft und anhaltend. Das Lachen mündete übergangslos in einen heftigen Hustenanfall. In diesem Moment stand der knobelnde Arbeiter auf, durchschritt, das steife Bein hinter sich herziehend, geräuschvoll den halben Saal und verschwand im schwarzen Loch eines Durchgangs, über dem ein handgemaltes, farbenfrohes Schild hing: "Zu den Spielgeräten" und "Toiletten".

Nachdem die Mikrowelle die Buletten halb aufgetaut hatte, brachte die freundliche Bedienung nicht ohne einen Anflug von Stolz die schwarzgrauen Fleischklöpse mit drei Gurkenscheiben, einem Stück bröseligem Weißbrot und sonnenblumengelben Servietten. "Die blenden ja geradezu", sagte Herr D. Die Kellnerin sagte nichts.

Schweigend, wie die Einheimischen im "Blauen Affen", stocherte Herr D. in seiner Bulette herum. Das Fleisch war so grau wie Menschen. Auf dem Nebentisch lag die BZ und berichtete von einem Mann, der das Fleisch seines toten Hundes gegessen haben soll. Herr D. stocherte noch ein wenig in der Bulette, dann hatte er keinen Hunger mehr. Nicht einmal das Schultheiss wollte ihm schmecken. Er wollte nur noch zahlen.

Und als er wieder in der Tür stand, rief ihm der mit dem lahmen Bein hinterher: "Na, gefällt dir wohl nicht bei uns hier unten. Aber du wirst dich schon dran gewöhnen, wenn du dann auch mal deinen Job verloren hast."
Herr D. stand vor der T ür und rieb sich die Augen, so sehr blendete das Tageslicht, so wunderbar hell erschien ihm plötzlich dieser graue Tag am grauen Hermannplatz.

Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann

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