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Zombies im Becken

Im Zuge einer Hinterhofrenaturierung entfremdet sich Herr D. von seiner Hausgemeinschaft

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

Endlich war es so weit. Nach drei Jahren unzähliger Treffen der Mietergemeinschaft, nach drei Jahren basisdemokratisch strukturierter Diskussionen - zu denen zuletzt laut Protokoll nur noch zwei Mieter erschienen waren - sowie nach drei Jahren zäher Verhandlungen mit der Hausverwaltung war es endlich so weit: Im Hof des Herrn D. durften Blumentöpfe aufgestellt und acht kleine Pflanzbeete für Hortensien, Löwenzahn und anderes Unkraut angelegt werden. Sogar Gelder aus öffentlichen Mitteln waren bewilligt worden, lediglich die Hausverwaltung hatte ihre Zusage einer finanziellen Unterstützung wegen aktueller Sparmaßnahmen wieder zurückgezogen.
Auch Herr D. hatte sich auf dem Zettel, der im Treppenflur aushing - "Wer hilft mit bei der Gestaltung des Hofes? Wir brauchen dringend noch fleißige Hände! Sonntagmorgen, 11 Uhr" - eingetragen. Ein wenig Bewegung konnte dem Bürohengst nicht schaden. Zudem beunruhigte ihn der Gedanke, für die kommenden zwei Jahrzehnte im Treppenhaus nur noch mit einem knappen Nicken begrüßt zu werden. Also wurden die alten, wahrscheinlich herren- und damenlosen Fahrräder aus dem Hof geräumt und im Keller zwischengelagert, für den Fall, dass sich doch noch ein protestierender Eigentümer melden würde. Erfahrungen in anderen Hausgemeinschaften hätten gezeigt, dass das Erinnerungsvermögen der Fahrradbesitzer bei derartigen Säuberungsaktionen schlagartig zurückkehrte. Auch die beiden rostigen Schwalben, die, soweit sich Herr D. erinnern konnte, seit dem Tag seines Einzuges unbeweglich auf der Stelle verharrten, wurden nur zur Seite gestellt. Kleine Motorroller aus der Demokratischen Republik haben unbestritten Nostalgiewert.
Es war elf Uhr, und über den zementierten, quadratischen Hinterhof dehnte sich ein strahlend blauer Himmel. Herr D. war guter Dinge: Ein bisschen Gartenarbeit mit den Nachbarn, am Nachmittag Würste auf dem Grill im neu gestalteten Hof.
Als er den Hof betrat, standen die Nachbarn schon bei Schaufel und Harke. Sie hatten sich nagelneue Arbeitshandschuhe besorgt, alte Hosen angezogen und Stirnbänder zum Auffangen des Schweißes angelegt. Alle entscheidenden Handlungsträger waren anwesend: Schulz, der geheime Hausmeister mit seinem gigantischen Werkzeugsortiment im dritten Stock, Gunter, der Heimleiter und heimliche Künstler mit der Dachwohnung, die Nachbarin, die sich vor dem Finanzamt fürchtete, und Oskar mit dem Ostalgiemuseum in seinem Schrebergarten im nahen Osten. Herr D. grüßte solidarisch und spuckte in die Hände: "Na, von mir aus kann's losgehen."
Nach zwei Stunden hatten sie die Betondecke an einigen Stellen angekratzt, nach wiederum zwei Stunden waren sie endlich auf die ersehnte Erdkrume gestoßen. Während die Hobbyarbeiter der Mietergemeinschaft den Aushub mit der Schubkarre in den Container balancierten, verfluchten sie lautstark die Hausverwaltung, die sich von ihren Mietern den Hof renovieren ließ. "Ihr müsst das sportlich sehen", lachte Schulz, der arbeitslose Arbeiter, der in seinem unbändigen Tatendrang vergaß, dass es bessere Zeiten gegeben hatte, in denen er Geld fürs Schuften bekam.
"Sport", rief Gunter, "Sport ist eine Sache für Amerikaner und Chinesen." - "Stimmt genau", sagte Schulz, "die Deutschen sahen doch kein Land mehr beim Schwimmen. Nur noch die Bugwellen der Amerikaner."
"Tja, als es die DDR noch gab", schaltete sich Oskar ins Gespräch, "da hatten die Amerikaner keine Chance." Die Bemerkung wurde höflich ignoriert. "Wir haben richtig abgeräumt." Doch es blieb still im Hof. "Wir haben's euch doch allen gezeigt damals." Alle blickten auf Schulz, und Schulz nahm sich ein Herz: "Aber nur, weil sie euch schon mit drei Monaten ins Wasser geworfen haben." - "Blödsinn", sagte Oskar aus dem Osten. "Ihr habt doch sogar eure Babys auf den Topf geschnallt, nur um Windeln zu sparen", unterstützte Gunter den Nachbarn Schulz. "Quatsch, damals gab's noch gar keine Windeln", sagte Oskar. "Bei euch vielleicht nicht. Hier schon", sagte die Nachbarin, die sich zwar vor dem Finanzamt fürchtete, doch DDR-Bürgern gegenüber mutig war. Und Gunter ergänzte: "Das Einzige, was ihr konntet, waren Kriegsspiele: Biathlon, Langlaufen, Schießen - lauter zweckentfremdete Gebirgsjägerbataillone." - "Nenene", rief Schulz, "die hatten schon so'n paar Zombies gezüchtet, die den andern davonschwammen. Aber das waren schwimmende Apotheken." - "Stimmt", rief die Nachbarin, "keine Brüste, aber Bärte wie Lenin." - "Bei uns im Westen gab's so was jedenfalls nicht", sagte Schulz abschließend und schob wütend die Schubkarre auf die Straße.
"Da wäre ich mir nicht so sicher", sagte plötzlich Herr D. "Ich habe auch mal Sport gemacht. Schwimmen." Die Hausgemeinschaft ließ die Werkzeuge sinken und begutachtete ungläubig die Leibesfülle des Herrn D. "Ich war morgens, mittags und abends im Wasser. Zwei von uns waren 1972 in München. Und ich erinnere mich, dass ich so kleine, blau-rote Kapseln bekam. Mein Vater schob sie mir zum Frühstück rüber. Ich weiß nicht, was da drin war. Ich weiß nur noch, dass meine Mutter dagegen war. Und dass mein Vater gegrinst hat wie Rumpelstilzchen! Und dass er die geheimnisvollen Dinger vom Trainer hatte."
"Na, seht ihr", rief triumphierend der Nachbar aus dem Osten. Die andern schaufelten schweigend weiter. Auch später, bei Würstchen und Bier, sprachen sie wenig mit Herrn D. Nur der Nachbar aus dem Osten wurde immer redseliger und unterhielt ihn mit einer Auflistung der glorreichen Siege einer untergegangenen Republik

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

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