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Herr D. vermittelt

Der Weg zum Schienenersatzverkehr ist weit, wenn jemand Englisch spricht

Von Hans W. Korfmann
Berlin Feuilleton

In Bonn war Herr D. am liebsten mit der Straßenbahn zur Arbeit gefahren. Er liebte es, durch den Verkehr geschaukelt zu werden. Aber da Herr D. in einem Alter war, in dem man ein paar Minuten Radfahren schon als Sport bezeichnete, fuhr er nun mit dem Rad. Natürlich spotteten sie im Büro am Werderschen Markt, als sie eines Tages D.'s Klammern an den Hosenbeinen sahen. Er sehe aus wie ein Briefträger. Und ob er vielleicht die Absicht habe, seine buchhalterischen Fähigkeiten in Zukunft in den Dienst der Grünen zu stellen.

Immerhin hatte ihm Christian Ströbele - der Mann, der nie ohne Fahrrad auftauchte - bereits kollegial zugewunken, als sie einander auf dem Fahrradweg trafen. Man kennt sich eben, und im Grunde war der ganze Betrieb eine große Familie, eine Art Verschwörergemeinschaft. Nur in Talkshows und Bundestagsdebatten taten sie stets, als seien sie Feinde.

Herr D. jedenfalls benutzte die U-Bahn nur, wenn er weite Strecken vor sich hatte. Aber es war jedes Mal ein Erlebnis. Die weit verzweigten, kilometerlangen Linien ließen die verschiedenen Gesichter der Stadt im Zeitraffer vorüberziehen. Nirgendwo spürte er das viel zitierte Multikulti Berlins so deutlich wie im Untergrund: Da war die berühmte U 1 mit ihren Althippies, Künstlern, Ausländern und ihrer ganzen Großstadtromantik, Protagonistin eines Theaterstücks, das sogar im fernen Japan ein Kassenschlager war. Da waren die U 2 und die U 5, wo die Leute auch zehn Jahre nach der Wende noch immer mit Honecker-Hüten und viereckigen Hornbrillen in den Sitzen saßen und die Köpfe zusammensteckten, wenn sie miteinander sprachen. Da war die U 8 mit ihren Arbeitern aus Neukölln und die U 6, die in Reinickendorf einmal kurz aus der Erde tauchte, um einen Blick auf den Flughafen Tegel freizugeben, von wo aus die Stahlvögel abflogen, während ihnen im schaukelnden Zug einige verschwiegene Gestalten nachblickten, die nur noch wenige Stationen lang auf freiem Fuß waren - nämlich bis zur Strafvollzugsanstalt Tegel.

D. aber liebte die U 9. Sie hätte ebenso gut durch Köln, München, Paris oder New York führen können. Die Fahrgäste trugen Einkaufstaschen, Koffer und Anzüge, denn die Linie führte über den Kudamm mit seinen Kaufhäusern ins mondäne Steglitz mit seinen Kaufhäusern. Die U 9 war der Stolz der Berliner Verkehrsbetriebe, und als ginge die Reise von Singapur nach London, sorgten sich während der Fahrt kleine Bildschirme um das Wohl der Fahrgäste und boten Unterhaltung in Form von Videoclips, Nachrichten und Veranstaltungsankündigungen. Die Berliner allerdings zeigten wenig Interesse an den Modernisierungen, sie betrachteten wie eh und je ihre Tunnelwände. Selbst die unterirdische Schaltzentrale an der U 9, ein futuristischer, geheimnisvoll beleuchteter Glasbau, war ihnen keinen Blick wert.

D. dagegen war fasziniert. Hinter den getönten Scheiben saßen schweigend die Techniker und beobachteten die unendliche Reihe bläulich schimmernder Monitore. D. assoziierte Cape Kennedy, Commander Spock, ferne Welten, er schwebte die Rolltreppe hinab. Erst der schlecht gelaunte Lautsprecher am Bahnsteig ließ D.'s Träume platzen: "Wegen eines Fahrgastunfalls ist der Zugverkehr auf unbestimmte Zeit . . ." Für D. war das noch immer neu. Die Berliner kannten das. Im November und Dezember war es besonders schlimm.

Kopfschüttelnd wanderten sie wie die Lemminge zu den Ausgängen, lediglich ein altes Pärchen in Wanderschuhen und dicken Wollsocken war verwundert zurückgeblieben. "Please, can you tell me . . .", wandte es sich an einen Vertreter des Servicepersonals. "No English, please. . .", lächelte der Mann mit der Uniform. D. entschied sich, zu vermitteln. "May I help you?", fragte er das reisende Rentnerpärchen. Das Pärchen wollte zur Friedrichstraße. "Zur Friedrichstraße, soso . . .", nickte der Mann mit der Mütze. Er schien nicht sonderlich erfreut darüber, dass Herr D. sich in seine Angelegenheiten mischte. "Ja, wo denn zur Friedrichstraße. Die Friedrichstraße ist lang." D. übersetzte. Das Rentnerpärchen aber wusste es selbst nicht so genau. Es wusste nur "Friedrichstraße".

Die Mundwinkel des Mannes mit der Mütze verkündeten Unheil. "Sie wissen es selbst nicht so genau!", vermittelte Herr D. "Na, sehen Sie", triumphierte der Uniformträger, "und wie soll ich dann solchen Leuten eine Auskunft erteilen, wenn sie nicht einmal wissen, wo sie hinwollen! Da kommen sie von überall her nach Berlin und wissen gar nicht, wo sie hinwollen."

D. sah ein, dass eine Fortführung des Dialogs keinen Sinn hatte, und riet den Besuchern, zum Bahnhof Friedrichstaße zu fahren. Sie waren einverstanden. "Und wie kommt man zum Bahnhof Friedrichstraße?", fragte Herr D. "Woher wissen Sie eigentlich, dass die beiden zum Bahnhof Friedrichstraße wollen?", erwiderte der Servicemann. Aber Herr D. war darauf vorbereitet. "Ich, ich muss doch selbst zum Bahnhof Friedrichstraße!" Endlich zeigte sich der Mann bereit, auf den Schienenersatzverkehr hinzuweisen, der am Ausgang wartete. "Aber der ist jetzt natürlich schon weg."

Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann

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