Ministerin auf leisen Sohlen
Die Wohnung der Regine Hildebrandt liegt
mitten in Berlin. Seit 25 Jahren lebt sie mit ihrer großen
Familie im gleichen Haus
Hildebrandts wohnen im zweiten Stock eines Mietshauses
zwischen der "Schnellen Quelle", einer Kneipe, in der
zu jeder Tageszeit eine Handvoll Männer am Tresen steht, der
Hundeboutiqe "Beauty Dog" mit Strickpullovern für
die vierbeinigen Lebensbegleiter, und einem Buchladen an der Ecke.
Familie Hildebrandt ist groß, drei Wohnungen des Hauses in
Berlin-Mitte halten sie seit Jahren besetzt: Neben der Politikerin
und ihrem Mann wohnen noch die Schwiegereltern und die Familie der
Schwägerin hier. Auch Regines Mutter wohnte hier bis zu ihrem
Tod.
Es ist kein gewöhnliches Mietshaus, in das Menschen
ein- und wieder wegziehen es ist ein Zuhause. Immer wieder
haben die Mieter untereinander die Wohnungen getauscht und die Stockwerke
gewechselt je nach den momentanen Bedürfnissen. "Das
war so üblich hier!" Die Laborantin Regine und ihr Mann
Jörg bezogen die vier großen Zimmer, in denen sie heute
wohnen, vor 25 Jahren. Damals tauschten sie mit der Nachbarin, die
allein zurückgeblieben war und die 180 Quadratmeter nicht mehr
sauberbekam. Und die jungen Hildebrandts hatten drei kleine Kinder!
In den drei Meter hohen Räumen der Altberliner
Wohnung riecht es nach frischgebackenem Kuchen. Die Ministerin schlürft
in dicken Norwegersocken und Pantoffeln über den abgetretenen
Parkettboden ins Wohnzimmer, heizt an kühlen Tagen den Kachelofen
ein, setzt sich zum Bier an den Tisch und sieht zu, wie die Flammen
an den Holzscheiten entlangzüngeln. Der denkmalgeschützte
Kamin ist über hundert Jahre alt. Drei Exemplare dieser Art
stehen noch in Berlin, eines davon im Pankower Heimatmuseum. Neben
Fresken und Figuren, den Säulen an der Seite, bei denen der
Ofensetzer nach griechisch-römischem Vorbild gearbeitet haben
muß, ziert ein 50x70 cm großes Relief das Prunkstück
auf ihm verbrennt Fugger einen Schuldschein Karl des Fünften.
Sonst prunkt nichts bei den Hildebrandts, auch der
schwarze Flügel ist ein Gebrauchsgegenstand. Die Familie ist
musikalisch, und selbst die Frau der barschen Worte findet hin und
wieder feine Töne: Seit Jahren trägt der Chor der Großfamilie
einen guten Teil zum Stimmvolumen der Berliner Domkantorei bei,
gegründet 1961 von Jörgs Bruder Herbert. Die Bücher,
die sich im Arbeitszimmer, im Gästezimmer und im Wohnzimmer
bis unter die Decke stapeln, stehen nicht zum Verstauben in den
Regalen. Überall in der Wohnung liegen welche: auf den Tischen,
den Sesseln und auf dem Sofa.
Das Eßzimmer nebenan hat viel Luft. Ein Tisch
mit einer schlichten weißen Decke, darauf zwei Kerzen, eine
Vase mit roter Rose. An der Wand eine Berlinkarte aus dem Jahr 1933
und ein schlichter Sekretär. Die Schiebetür zwischen
Eß- und Wohnzimmer ist immer geöffnet. Nur zu Weihnachten
wenn das Christkind kommt zu den Kindern und den Enkelkindern
teilt sie den großen Raum.
Gleich nebenan liegt das frühere Arbeitszimmer
das nun als Gästezimmer dient. "Wir haben hier ja
ständig umgebaut! Zeitweise hatten wir sieben Zimmer! Das kann
man sich gar nicht vorstellen!" Frau Hildebrandt läuft
durch die Räume, zieht imaginäre Wände, zeigt, wo
sie ihre Dunkelkammer eingerichtet hatte, wo sie noch ein Kinderzimmer
einschoben, wie weit das Bad mit der kleinen Badewanne einmal reichte,
wo sie ein Hochbett installierten und wo noch immer der sechs Meter
lange Hängeboden von der Decke hängt. "Da konnten
ein Dutzend Kinder drauf schlafen! Hier war doch immer was los,
wir hatten immer irgendwen zu Besuch."
Jetzt, wo die Kinder groß sind, wurden die Trennwände
wieder herausgerissen. Nur das zehn Meter lange Berliner Zimmer,
das einst in drei Parzellen zerfiel, ist noch heute in zwei Hälften
unterteilt. Die Küche und das Badezimmer haben die alte Großzügigkeit
vergangener Epochen zurückerhalten. Beide gehen nach Westen
hinaus und sind nach westlicher Manier renoviert: In der Küche
eine praktische Einbauküche und im Bad hellblaue Kacheln und
eine geräumige Badewanne. "Da würden zehn Kinder
reinpassen!"
Auf den Schwarzweißfotografien eigener Produktion
planschen die blonden Kinder noch in der weißen Emaillewanne
mit den vier Füßen. Das braune Fotoalbum ist gewaltig,
aufgeklappt mißt es einen Meter. Andere Alben voller Erinnerungen
liegen griffbereit auf dem Tischchen unter der Stehlampe, 56 Jahre
bewegter Vergangenheit.
Regine wurde zu Hause geboren, in der Bernauer Straße
14. Das war 1941. Drei Jahre später zerstörten Bomben
das Haus, die Familie wurde evakuiert. Erst nach dem Krieg kehrten
sie zurück wieder in die Bernauer Straße, diesmal
in die Nummer 2. Als am 13. August 1961 die Mauer Deutschland teilte,
gehörten sie zu den letzten, die noch in den Westen durften:
ihre Haustür führte auf westliches Territorium. Dann mauerte
man der Familie die Fenster zu und bot ihnen einige Wochen später
eine neue Wohnung an: Bernauer Straße 10, wo sich gerade eine
Familie in den Westen abgeseilt hatte. "Wir wohnten mit dem
Kopf im Westen und dem Arsch im Osten!" Doch auch dort durften
sie nicht bleiben: Eines Morgens im September klingelte es, sie
mußten einen Lkw mit ihren Habseligkeiten beladen. "Und
keiner wußte, wohin die Reise gehen sollte! Das war schon
ein merkwürdiges Gefühl, ich kann mich noch genau dran
erinnern." Die Reise endete in der Neuen Schönhauser Straße.
"Gleich hier um die Ecke. Wir sind immer nur so ein paar Meter
weitergezogen!"
Insgesamt ist Regine Hildebrandt vielleicht 2 000
Meter weiter gekommen seit 1941. Aber sie war immer ganz nah dran,
wenn etwas geschah. Damals beim Mauerbau und später beim Mauerfall.
Von ihrer Wohnung aus sieht sie auf das Rote Rathaus und den Fernsehturm.
Auch im Sommer 1989 stand sie oft am Fenster.
Nun wird alles anders: Familie Hildebrandt will aufs
Land ziehen. In Woltersdorf bauen sie an einem Haus. Groß
genug für alle: für die Schwiegereltern, die zwei Kinder
mit den Enkelkindern und die Familie des Schwagers. Alle kommen
mit
Berliner Zeitung - 1997
© Hans W. Korfmann
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