Ohne festen Wohnsitz
Herr Mitulla ist Binnenschiffer. Mit der
MS "Ozeana", der Frau und den zwei Töchtern schippert
er über Flüsse und Kanäle
Dort, wo Familie Mitulla wohnt, gibt es keine Hausnummer und keinen
Briefkasten. Und ein fester Wohnsitz ist die "Ozeana"
eigentlich auch nicht es schaukelt doch immer ein bißchen
auf den Wassern der Flüsse und der Kanäle, auch wenn es
nicht die offene See ist. Der schmale Steg, der zu ihrem Heim führt,
verbindet sie mal in Rotterdam, mal in Hamburg oder Berlin mit dem
Land sie sind jahrein, jahraus unterwegs. Flußzigeuner,
so nennt man die Binnenschiffer noch heute.
Herr Mitulla ist vierzig Jahre alt, trägt einen
feingestrickten Pullover, halblanges Haar und ein freundliches Lächeln.
Die meiste Zeit verbringt er im Führerhäuschen mit dem
Steuerrad, den Kontrolluhren und den Schalthebeln. Ein Ginsterstrauch
leuchtet gelb, und ein Kaktus treibt rosa Blüten. Licht gibt
es genug auf der "Brücke", die Scheiben gehen rundum,
und im Winter ist es hier richtig kalt. Manchmal steht Herr Mitulla
im Mantel und lenkt Fracht und Haus durch die gewundenen Flußläufe.
Der Winter macht den Binnenschiffern zu schaffen, vor zwei Jahren
lagen sie drei Monate fest im Eis und machten keinen Groschen. Obwohl
Verkehrsminister Wissmann ihnen Eisgeld versprochen hatte.
Gleich neben dem Steuerrad führen sechs hölzerne
Stufen unter Deck, in die warme Stube, mit den Teppichen und dem
Wohnzimmertisch, den Spielesammlungen der zwei Kinder und den Fotoalben.
Die Stahlwände sind dünn, doch der Ölofen und die
Holzvertäfelungen halten sie behaglich warm. In der Küche,
zwischen Waschbecken und Einbauschrank, steht die Frau am Gasherd
und kocht Kaffee. Durch eine Luke in der Decke fällt Licht,
und wenn man sie öffnet, dient sie als Dunstabzug.
Zehn Jahre ist es her, daß die Bürokauffrau
ihren Mann kennenlernte. Seitdem kümmert sie sich um den Haushalt
und die Kinder, vertäut das Schiff im Hafen und übernimmt
das Steuer, wenn der Kapitän nach der Maschine schauen muß.
Ihr Lieblingsbild über dem Sofa ist ein Gemälde zweier
Segelschiffe vor düsterem Himmel und schwerer See, ihrem Mann
gefällt das Porträt der "Ozeana" besser, das
eine Stettiner Künstlerin von seinem Schiff angefertigt hat.
Auf dem Fernseher stehen verschiedene Wimpel und die Flagge der
Reederei, für die er fährt: Partnership.
Herr Mitulla liebt sein Schiff, das 1954 in Wannsee
gebaut wurde. Nichts hat er verändert, alles so gelassen, wie
es war. Nur einen frischen Anstrich hat es bekommen. Die "Ozeana"
ist ein Schmuckstück, aus Messing die Klinken der schmalen
Schiebetüren, die Kurbeln, mit denen sie die Fenster herunterleiern,
und die Fassungen der Schiffslampen. Im Schlafzimmer drängen
sich auf kleinstem Raum das Ehebett und die zwei Schlafstätten
der Mädchen, belagert von Puppen und Stofftieren. Eine Fotografie
des Papstes blickt gütig auf die gläubige Familie hinab.
Durch das Kajütenfenster sieht man auf den Wellen das Sonnenlicht
glitzern. Es ist eng hier, aber schön ist es auch.
Vor allem im Sommer. Da planschen die Kinder im aufblasbaren
Schwimmbecken auf dem Deck, und wenn sie irgendwo ankern, dann klettern
sie ins Schlauchboot und rudern los. Wasserschlangen haben sie schon
gesehen und Biber, Wildschweine im Wald und Hasen und Rehe. Doch
das wird bald ein Ende haben: Desiree ist sechs Jahre alt und damit
schulpflichtig, demnächst werden die Mädchen mit ihrer
Mutter an Land gehen und eine richtige Wohnung beziehen. Herr Mitulla
will erst einmal weiterfahren. Bis er eine Arbeit findet. Auf der
Großbaustelle am Potsdamer Platz hätte er schon anfangen
können, als sogenannter "Warschauer Posten". Er hätte
wie ein Verkehrspolizist die Schiffe durch das Labyrinth der künstlichen
Wasserwege lotsen sollen, über die Sand und Zement für
Daimler, Sony & Co transportiert wird. Aber das war nichts für
ihn. Eigentlich möchte er weiterfahren. Am liebsten als Kapitän
auf der Yacht von Bundeskanzler Lafontaine seinem heißen
Favoriten.
Berliner Zeitung - 1997
© Hans W. Korfmann
zurück
|
|