Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Kopien der Wirklichkeit

Gaetano Scognamiglio steht im Copyshop und pflegt seine Erinnerungen an Nizza und an Gerard Depardieu.

Manchmal betritt ein Fremder den Laden im Souterrain, und Gaetano Scognamiglio steht da mit einer Kelle voll frischem Mörtel in der Rechten und dem Telefonhörer in der Linken und erklärt irgendjemandem am andern Ende der langen Leitung, dass es einen eklatanten Unterschied gibt zwischen Dromedaren und Kamelen. Wenn es dann passiert, dass Gaetano, auf Grund eines besonders lauten Auftretens des Fremden zum Beispiel, den Kunden wahrhaftig wahrnimmt, dann überlegt er, ob er zuerst die Kelle an die Wand, den Hörer auf die Gabel oder den Kunden einfach wieder rausschmeißen soll. Und sieht einen Moment lang so aus wie sein berühmter Landsmann Louis de Funes.
Aber keiner lacht. "Denn das ist keine Komödie, das ist eine Tragödie hier in diesem Copyshop!", sagt Scognamiglio. Deutsche könnten sowieso nie lachen. "Les allemands sont commes impermeables ...", wie Regenjacken sind die Deutschen: "Da geht nichts durch." Gaetano Scognamiglio liebt in Sprüche gepackte Weisheiten. Schließlich ist er Franzose. Murmelt so vor sich hin, im Geschäft. "Die Deutschen reden zu wenig. Das liegt am Wetter. Keine Sonne. Das schlägt aufs Gemüt." Deshalb denkt er manchmal an Afrika. Jetzt gleich zusammenpacken und weg. Aber, "wie ja auch die Deutschen richtig sagen: Einen alten Baum verpflanzt man nicht." Und Gaetano ist schon dreißig Jahre in Berlin. Wegen der glänzenden Uniformen, in denen sich die deutschen Soldaten präsentierten, damals, in den Zeitungen und in den Filmen, die er als Kind sah. Die hatten ihn fasziniert. Vielleicht, weil er in der Gosse groß geworden ist. Da glänzen Uniformen besonders.
Irgendwie stand sein Leben am Anfang unter keinem guten Stern: Der Vater litt an Parkinson und starb früh, die Mutter hatte man in eine psychiatrische Anstalt gesteckt. Sie musste während des Krieges in Österreich Handgranaten zusammenbauen. Bis plötzlich Bomben auf die Munitionsfabrik fielen. "Es muss schlimm gewesen sein." Sie hat es nie ganz verwunden. Gaetano hat sie kaum kennen gelernt. Man besuchte sie nur selten, obwohl die Anstalt nicht weit entfernt war von Nizza. Wozu auch. Sie erkannte ja niemanden mehr.
"Jetzt tun mir alle Knochen weh. 65 Stunden arbeite ich in der Woche, sogar sonntags. Und das mit Zweiundfünfzig! Und wofür? Früher für Theo, dann für Oscar, jetzt für Hans Eichel. Das macht keinen Unterschied." Sagt er, wie das Franzosen sagen, und verzieht lässig den Mund. "Ein ganzes Leben lang nur Arbeit." Begonnen hat er mit dreizehn. Um halb drei Uhr in der Nacht. Um diese Zeit musste er das Kinderheim verlassen, um rechtzeitig in der Konditorei zu sein. Der Chef war nie zufrieden, immer am Meckern. Schlimmer als er selbst. Dann arbeitet er an der Tankstelle. Mit achtzehn sieht man ihn als Liftboy. Immerhin, er hat ein schönes Zimmer, gutes Essen und bekommt Lohn und Trinkgeld. Und steht ganz knapp daneben. Neben dem Leben - der Reichen und Schönen von Nizza. Am Ende dieses Lebensabschnittes hat er sogar etwas zusammengespart. Denn Gaetano Scognamiglio lebt bescheiden. Ein warmer Wind, sagt er, hat ihn irgendwann nach Berlin geblasen. Ein Furz. Er arbeitete im Hotel, in einem Copyshop, "was weiß ich wo", und sparte weiter. Bis er sich eines Tages einen alten Traum erfüllen konnte und sein eigenes Restaurant eröffnete: "Le Mistral". Aber Träume sind kurz. Nach sechs Monaten weckten ihn die Bomben. Sein Präsident, Chirac, zündete zu Versuchszwecken im Herbst 1995 einige Atombomben. Die wackeren Deutschen verschmähten plötzlich den französischen Camembert, die französische Salami und sogar den französischen Wein. Sie besprühten die frisch verputzten Wände des kleinen Lokals in Schöneberg mit Parolen. Und boykottierten hartnäckig die französischen Restaurants in der Stadt. Gaetano hatte alles auf eine Karte gesetzt und nichts mehr in der Hinterhand. Also verkaufte er die Einrichtung, das Kochgeschirr, das Besteck - am Ende blieben von seinem Traum nur Schulden. Seitdem steht er im Copyshop. "Wissen Sie, was das heißt, 65 Stunden in der Woche, und Sie wissen nicht, wofür?" Und dann kommen die Kunden und wollen runterhandeln. Wollen statt zehn Pfennig pro Kopie nur noch acht zahlen. "Manchmal denke ich, ich bin in Arabien."
Gaetano wischt sich theatralisch über die Stirn, als stünde Schweiß auf ihr. Er wäre wohl kein Franzose, liebte er nicht das Drama. Er ist immer in Eile, liegt unter den Maschinen wie ein Automechaniker, schreibt gewaltige Zahlenkolonnen in dicke Bücher, stöhnt, wenn das Telefon klingelt, schreit wegen fehlenden Wechselgeldes bei jedem Zehnmarkschein auf, als handele es sich um Tausender, und kümmert sich ansonsten mit allem zur Verfügung stehenden Charme um die weibliche Kundschaft. Er sieht aus, als habe er immer schlechte Laune. Aber manchmal schmunzelt er. Wenn im Winter die Leute bei ihm die Treppen herunterrutschen und dann breitbeinig auf dem Boden sitzen, sagt er: "Ich hoffe, Sie haben sich nicht weh getan." Um sofort wieder zu seiner Maschine zu stürzen. Ganz wie Louis de Funes.
Es gibt Deutsche, die er mag. Die alte Dame zum Beispiel, an die achtzig, die jede Woche die schmalen Stufen zu ihm herunterkommt, obwohl die Beine nicht mehr so recht wollen. Sie kopiert Witze aus den Zeitungen für ihr Kaffeekränzchen. Oder die Studentin, der es gefällt, wenn er das "L" in Mademoiselle so genüsslich über die Zunge rollen lässt.
Gaetano Scognamiglio wird wahrscheinlich bleiben - bis zur Rente. Im Souterrain, Bergmannstraße. In seinem Geschäft stehen die Maschinen und ein Tisch zum Schneiden, an der Wand hängt eine Preisliste. Keine Bilder, keine Topfpflanzen. Gaetano ist Pragmatiker. Er hat keinen Sinn für Überflüssiges. Ein einziges Foto hängt hinter ihm an der Wand. Schwarz-Weiß, mit einem Namenszug versehen: Gerard Depardieu. "Das ist mein Freund, der schickt mir immer Geld, wenn ich die Steuern nicht mehr zahlen kann", sagt er. Er hat den Schauspieler einmal getroffen. Im Lampengeschäft, neben seinem "Le Mistral", damals. Während einer Berlinale. Eine halbe Stunde lang haben sie sich unterhalten, während Depardieu sich nicht entscheiden konnte zwischen zwei Lampen. "Franzosen reden eben miteinander. Wir sind Landsleute. Und den gleichen Weg gekommen. Nizza, Paris, Berlin. Das verbindet."
Die Fotografie zeigt einen winzigen Ausschnitt aus dem Leben Gaetanos. Aber sie wirft Licht bis ins Souterrain der Bergmannstraße. Sie ist einer der Lichtblicke in Gaetanos Leben. Sie glänzt wie die Uniformen und die Sterne, die ihm einmal greifbar nahe waren. Dem Kind und auch später dem jungen Mann. Geboren in Cannes, 1947, ein paar hundert Meter von jenem berühmten Kino entfernt. In jenem Jahr, als zum ersten Mal die Sterne des Zelluloidhimmels über der Stadt aufgingen. Vielleicht deshalb hängt die Fotografie in der Bergmannstraße. Vielleicht deshalb stand er in Nizza als Liftboy neben dem Fahrstuhl und begleitete die Berühmten einige Stockwerke auf dem Weg nach oben. In den großen FünfSterne-Hotels, im Westminster und im Negresco. An der Promenade des Anglais. Da war er ganz nah dran. Da hat er auch Louis de Funes kennen gelernt. Drei Wochen war er sein Gast, "eine ganz unangenehme Person". Und auch Romy Schneider, Ende der 80er. Die war ihm sympathisch. Sie haben vor dem Fahrstuhl gestanden und miteinander gesprochen. Er, der Liftboy, und sie, Romy Schneider. Hörte ihm zu. Blieb, als sie längst oben angelangt waren, neben ihm stehen und hörte ihm zu.
Jetzt stehen neben ihm die Maschinen. Manchmal empfindet er Heimweh. "Wenn ich in Südfrankreich bin, das ist, als würde jemand eine Tür aufmachen, und es weht eine frische Brise herein." Erinnerungen, wie Kopien der Wirklichkeit. "Das weiß man, nach so vielen Jahren im Copyshop." Manchmal denkt Gaetano Scognamiglio an die Zukunft. An Afrika. Er wäre wohl kein Franzose, wenn er nicht eine Faszination empfände für Marokko. Die Häuser sind erschwinglich dort. Aber auch Neapel könnte er sich vorstellen. Nizza? Nein, das ist ihm zu viel Glitzer. "Das blendet einen, wissen Sie. Das ist nicht meine Welt."

Frankfurter Rundschau - 1999
© Hans W. Korfmann

zurück