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Kostas aus Kreta

Die Geschichte eines ewigen Widerstandskämpfers, kein Heldenepos

Für die Hippies, die gerade aus Indien zurückkehrten und auf Kreta noch einen Kurzurlaub einlegten, war die Insel ein Schlaraffenland, in dem dickbäuchige Melonen am Wegrand lagen und in dem man sich Gurken und Tomaten aus den übervollen Gärten pflücken konnte. Andere überlegten sogar, sich dort niederzulassen. Als 1975 drei dieser Wohlstandskinder an die Südküste Kretas kamen, belustigten sich die Griechen noch über die neuzeitlichen Auswanderer. Sie zweifelten am Verstand dieser Menschen, die sich in dem Dorf Krotos ins Kafeneion gesetzt hatten, eine Flasche Retsina nach der anderen leerten und behaupteten, sie seien auf der Suche nach einem Haus. "Ein Haus? Wozu ein Haus?", fragte ein kleiner Mann mit einem riesigen Schnurrbart, der bei Siemens am Fließband gestanden hatte und sich freute, von seinen Deutschkenntnissen Gebrauch machen zu können.

"Wir wollen hier leben und arbeiten!" sagten die Fremden. Der Mann von Siemens übersetzte, aber niemand verstand. Da gingen die Griechen scharenweise nach Deutschland, weil es dort Arbeit gab, und die Drei kamen ausgerechnet in dieses kleine, dreckige Bergdorf mit seinen alten Männern und seinen alten Eseln und diesem mickrigen Kafeneion, in dem es nichts anderes gab als Kaffee, Retsina, Schnaps und Erdnüsse, und suchten ein Haus. Erst als sich herausstellte, dass es sich um Künstler handelte, die malen und schreiben wollten, verstanden sie. Draußen auf der Straße wurden die Schatten länger, die Griechen im Kafeneion von Krotos verloren das Interesse an den Fremden und kehrten auf ihre Felder zurück.

Nur einer war geblieben. Ein Mann, der die ganze Zeit über still in der Ecke gesessen hatte. Er bestellte eine Flasche Wein und setzte sich an ihren Tisch: "Sucht ihr Arbeit?" Er sprach Französisch und ein paar Brocken Englisch, er versuchte, etwas zu erklären, aber sie konnten ihm nicht folgen. Doch am Ende war die Sache abgemacht.

So lernten die drei jungen Deutschen die andere Seite des Hippieparadieses kennen. Standen am nächsten Morgen auf einem steilen Hang, unter sich das blaue Meer, und mit jeder Stunde, die sie höher stiegen an diesem Julitag, rückte ihr Paradies in weitere Ferne. Allmählich wurde klar, dass sie nicht vor Sonnenuntergang von hier fortkämen. Auch das Wasser aus der Flasche hatten sie längst getrunken, die einzige Flüssigkeit, die es noch zu geben schien auf dieser Welt, war Schweiß.

Sie schufteten wie im Steinbruch, schlugen mit der Spitzhacke auf den Berg ein, um die fußballgroßen Kiesel zu lockern, die das Meer vor Jahrtausenden hier oben zurückgelassen hatte, stachen mit langen Eisenstangen gewaltige Steine aus der zu Ton gebrannten Erde, transportierten sie mit einer wackligen Schubkarre über das abschüssige Gelände oder rollten sie mit vereinten Kräften den Abhang hinunter.

Kostas war ein breiter, großer Grieche, ein griechischer Anthony Quinn, er fluchte und lachte bei der Arbeit wie Sorbas in seinem Bergwerk. Es schien, als habe er teuflischen Spaß daran, diesem Berg zu Leibe zu rücken. Aber manchmal kam den Deutschen der Verdacht, der Grieche habe sie nur deshalb mitgenommen, um ihnen eine Lektion zu erteilen, zu zeigen, wie schwer das Leben auf dieser Insel sein konnte.

Gegen Mittag sah er zum Himmel, ließ die Hacke im Boden stecken. Sie banden die Korbtasche vom Esel und traten in das winzige Haus, das man auf dem Hang errichtet hatte, nicht mehr als ein Dach über den zu Mauern aufgeschichteten Steinen dieses Ackers. Ein winziges, glasloses Fenster gab es, groß wie eine Schießscharte, nur durch die Türöffnung drang das gleißende Tageslicht und versuchte, in die dunklen Ecken zu kriechen.

Allmählich gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit, Kostas lief gebeugt unter der niedrigen Decke und suchte nach Gläsern, auf dem knietiefen Tisch standen eine Korbflasche mit Wein und ein Teller mit Oliven. Das Brot war ein harter Gersten-zwieback, den man in einem Blechteller mit Wasser einweichte. Kostas stellte Gläser auf den Tisch, seine Hände waren braun von der Sonne, sehnig von der Arbeit, viel zu groß für die kleinen schwarzen Oliven. Die Deutschen starrten auf das kärgliche Mahl und auf die Hände dieses Mannes, die alles zu erzählen schienen, was einer, der hier lebte, zu erzählen hatte.

Doch im Leben dieses Mannes gab es mehr als nur die Sonne und die verbrannte Erde. Sie sprachen viel miteinander, mit Händen und Gesten, verirrten sich hoffnungslos in einem babylonischen Sprachengewirr und verstanden doch beinahe nichts. Außer, dass Kostas Tomaten pflanzen wollte in dieser Steinwüste, an diesem steilen Berghang, an den sich noch kein kretischer Bauer herangewagt hatte. Kostas, verstanden sie, besaß nur noch dieses Stück Berg. Er war, verstanden sie, viele Jahre im Gefängnis gewesen, und musste wieder ganz von vorne anfangen. Er lachte und malte mit dem Finger unsichtbare Jahreszahlen auf den Tisch. Doch was in diesen 65 Jahren im Leben des Kostas Petrakis geschah, blieb im Dunkeln.

Drei Tage waren sie Karl, Rosa und Friedrich. Kostas hatte ihnen diese Namen angehängt und sich auf die Schenkel geschlagen vor Vergnügen. Karl, Rosa und Friedrich. So wie Marx, Luxemburg und Engels. Er hob sein Glas, rief "El Viva" und lachte. Drei Tage arbeiteten sie, bei trockenem Brot und Oliven und Wein. Warum, wusste keiner mehr genau. Irgendwann zogen sie weiter.

25 Jahre später sitzt Karl eines Abends als letzter Gast in einer abseits gelegenen Taverne am Meer, und hinter der Taverne steigt steil der Berg an, aus dem einmal ein Garten Eden werden sollte. Noch immer ein Haufen von Steinen mit Blick aufs Libysche Meer.

Aris, der Wirt, redet nicht viel. Tomaten? Er sehe keine. Und Fremde seien hier viele vorbeigekommen in den letzten 25 Jahren. Erst als Karl von dem alten Mann erzählt, dessen Namen er schon vergessen hatte, und der seine Freundin Rosa und den Freund Friedrich genannt hatte, stellt er eine Flasche Retsina auf den Tisch und sagt: "Das war mein Vater. Kostas Petrakis."

" Ich heiße Aris, nach dem berühmten griechischen Partisanen Aris Velouchiotis. Mein Bruder heißt Pierre, zur Erinnerung an einen überzeugten Antifaschisten und Freund meines Vaters, Pierre Leostik. Mein Vater hat als Kommunist zuerst gegen die deutschen Faschisten gekämpft, im Bürgerkrieg gegen die Kollaborateure, dann gegen die Militärdiktatur und am Ende gegen die stalinistische Linke Griechenlands. Sie haben meinem Vater nach dem Tod ein Denkmal auf dem Flughafen gesetzt, ihn auf dem "Friedhof der 22 Gefallenen" begraben und eine Straße in Iraklion nach ihm benannt. Aber einen angemessenen Platz zum Leben haben sie ihm nicht gegeben. Er musste hier auf diesem Hang Tomaten pflanzen."

Karl erfährt an diesem Abend das Ende einer Geschichte, die ein alter Mann vor 25 Jahren zu erzählen begann. Aris erzählt nicht gerne davon. Immer wieder fragt man ihn, ob er der Sohn des Petrakis sei, und meistens verneint er. Denn die Leute wollen immer von dessen Heldentaten hören. Doch ist es eine ungerechte und traurige Geschichte, an deren Ende sich ein gebrochener, alter Mann über ein unfruchtbares Stück Erde beugt, um ihr ein trockenes Stück Brot abzuringen. Denn Petrakis war ein Mann, der immer auf der falschen Seite stand. Der nicht für Generäle und politische Führer, sondern ein Leben lang für seine Ideale kämpfte. Der dreißig Jahre im Widerstand lebte. Und neunzehn davon im Gefängnis verbrachte.

Deshalb denkt sein Sohn nicht in erster Linie an den Helden Kostas Petrakis. Nicht an jenen Mann, der 1941 an der albanischen Front kämpft, um den Einzug Mussolinis nach Griechenland zu verhindern; der 1942 mit fünf Franzosen in einem U-Boot vor der afrikanischen Küste untertaucht, um am 12. Juni vor der Küste Kretas aufzutauchen und in einer waghalsigen Aktion das Benzindepot der Wehrmacht auf dem Flughafen von Iraklion in die Luft zu sprengen.

Aris denkt, wenn er an seinen Vater denkt, nicht unbedingt an die nächtliche Überfahrt nach Afrika in dem winzigen Fischerboot, und er redet auch nicht viel über die berühmte Schlacht von El Alamein, im Oktober 1943, wo sein Vater an der Seite von Montgomery mit den griechischen Truppen gegen den Wüstenfuchs Rommel durch den Sand kroch - und siegte. 90 000 Soldaten sind dort im Sand liegen geblieben.

Wenn Aris Petrakis an seinen Vater denkt, dann denkt er daran, dass auch sein Vater damals beinahe im Sand liegen geblieben wäre. Er denkt an den zwölf Meter tiefen Brunnen in Asmara, tief im Süden, schon jenseits der ägyptischen Grenze, in Äthiopen, wo Kostas Petrakis mit seinen 600 griechischen Soldaten 1945 stationiert war. Und er denkt an die Engländer, an deren Seite Petrakis gekämpft hat, und die ihn zum Dank für seine Dienste nach Kriegsende in diesen Brunnen steckten. Weil den Royalisten die Reden des griechischen Lehrers nicht gefielen, der für eine Volksdemokratie im Nachkriegsgriechenland eintrat und bereits das komplette griechische Heer mit seiner Idee angesteckt hatte.

Er hat sich, sagt sein Sohn, nie erholt von dem Schlaganfall, den er in diesem Brunnenschacht erlitten hatte. Über zwei Jahre blieb er in britischer Gefangenschaft, erst ein Hungerstreik machte die griechische Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam und erinnerte sie an ihren siegreichen Leutnant. Das sind die Geschichten, die die Griechen nicht gerne hören.

Doch daran erinnert sich Aris. Und daran, daß 1947, als Kostas Petrakis endlich heimkehrt, wieder ein Krieg tobt. Ein erbitterter Bürgerkrieg. Der Lehrer Petrakis kämpft nun nicht mehr mit der Waffe an vorderster Front gegen die königstreuen Truppen, sondern mit dem Wort. Aber er verbringt wegen seiner agitatorischen Tätigkeit die meiste Zeit des Krieges im Gefängnis. Fünf Jahre später scheint sich das Blatt zu wenden. Der griechische Premierminister Karamanlis lockert die Parteiengesetze, Petrakis kandidiert für die nun zugelassene kommunistische Partei. Alles deutet darauf hin, dass der Kriegsheld zum künftigen Präfekten von Iraklion gewählt wird. Doch seine antistalinistische und kritische Haltung gegenüber dem Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei bewegen die Parteiführung, den ewigen Widerständler wieder aus dem Rennen zu nehmen. Wenig später ist er erneut im Gefängnis. Und als die Junta an die Macht kommt und den unbequemen Redner vorsorglich mundtot macht, sind es nicht die Chargen der Diktatur, sondern vor allem die stalinistischen Kommunisten der "KKE", die ihn als Verräter verleumden.

"Ich war vier Jahre alt, als ich meinem Vater das erste mal begegnete. 1967, im Gefängnis von Iraklion. Ich habe ihn als Kind immer nur im Gefängnis gesehen. Mein Vater war ein gebildeter Mann, er konnte reden. Er konnte die Massen mobilisieren, als Revolutionär ebenso wie als Politiker. Sie hatten immer Angst vor ihm." Deshalb wurde seine politische Karriere von den Parteigenossen zerstört, bevor sie überhaupt begann. Auch an der Schule durfte der Lehrer Petrakis nicht mehr unterrichten. Das Gesetz von Zolakoglou verbot noch in der Ära Karamanlis einer Reihe von Professoren und Lehrern die Ausübung ihres Berufes, darunter auch Kostas Petrakis.

Aris ist heute 40 Jahre alt. Er hätte diesen steinigen Hügel wahrscheinlich längst verlassen. Aber auch ihm und seinem Bruder verbot das Gesetz den Besuch einer Universität. "Mein Leben hätte ganz anders aussehen können, wenn mein Vater sich gegen das Berufsverbot gewehrt hätte, so wie die anderen auch. Aber er hat sich irgendwann in den Kopf gesetzt, Tomaten zu züchten und seine Memoiren zu schreiben." Kostas Petrakis hat sie auch geschrieben, und er hat "Die Ritter des Glaubens" 20 000 mal verkauft.

Aber aus seinen Tomaten ist nichts geworden. Obwohl Freunde aus aller Welt kamen und ihm halfen. Ehemalige Kampfgenossen. "Und die Tomaten wuchsen sogar. Aber er kümmerte sich nicht um das Geschäft. Er war kein Bauer. Er pflanzte die Tomaten nur, weil er hoffte, dass sie ihn in Frieden lassen würden, wenn er hier am Ende der Welt herumackerte. Im Grunde hatte er schon aufgegeben, als ihr ihn damals getroffen habt. Auch wenn er sich auf die Schenkel klopfte vor Lachen."

Aris erzählt die Geschichte nicht gerne. Die Leute wollen immer die Geschichte des siegreichen Helden hören. Und dass Aris ein T-Shirt mit dem Konterfei Che Guevaras trägt, hat vielleicht weniger damit zu tun, dass der kubanische Revolutionär ein Held war. Sondern dass er ebenso wie sein Vater ein Verlierer war. Und ebenso wie sein Vater aus den eigenen Reihen verraten wurde.

Nein, mit Politik will der Sohn des Petrakis nichts mehr zu tun haben. Es sieht sogar aus, als lebte er von jenen, die sein Vater einst bekämpfte. Denn auf dem Steinhügel, ganz oben, sind jetzt einige Häuser entstanden - mit Blick aufs Meer. Wochenendhäuser der Athener, sogar Deutsche haben sich dort niedergelassen. "Aber es sind ausgewählte Leute", sagt Aris. Sonst käme er sich wie ein Verräter vor.

"Weißt du", sagt er am Ende zu Karl, "ich habe eines Morgens, als ich zur Schule gehen wollte, einen kleinen Zettel auf dem Küchentisch gefunden. Mein Vater hatte zwei Sätze für mich darauf geschrieben: Wenn du an etwas glaubst, dann kannst du auch dafür sterben. Aber um wirklich an etwas glauben zu können, musst du erst einmal lange, sehr lange in die Schule gehen!" Sein Vater, der Lehrer, glaubte an etwas.

Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann

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