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Schwein gehabt

Der Franziskushof im brandenburgischen Zehdenick ist ein besonderes Ausflugsziel. Was hier auf den Tisch kommt, haben Obdachlose zubereitet. Vor allem die Leberwurst ist ein Segen

Von Hans W. Korfmann

foto: © Michael Hughes
foto: © Michael Hughes

Der Wittenbergplatz liegt an einer der Hauptschlagadern Berlins, dem Kurfürstendamm und gleich gegenüber dem KaDeWe. Einmal die Woche sieht es hier aus wie vor 200 Jahren. Die Bauern aus dem Umland bieten ihre Waren an: winzige Biokartoffeln, trübe Säfte, handgestrickte Pullover, hartes Vollkornbrot. Die Berliner stehen Schlange. Ein Stand hat es ihnen besonders angetan. Dort gibt es Wurst und Fleisch und einen Wurstverkäufer mit biblischem Bart, langen, silbergrauen Haaren und freundlichen Augen. Seine Weihnachtsgänse sind so gut, dass die ersten Bestellungen bereits im Sommer eingehen. Nicht weniger beliebt ist der Mann selbst. Jeder aus der bäuerlichen Gemeinde am Wittenbergplatz kennt ihn, und im nahe gelegenen Café, in dem er sich für ein halbes Stündchen vom langen Stehen hinter der Theke erholt, begegnet man ihm mit Ehrerbietung. »Den Kuchen brauchst du nicht zu zahlen, das war doch nur der letzte Rest! Und den Kakao spendiere ich!«, sagt die junge Frau mit dem Tablett in der Hand.

Der Mann mit dem biblischen Bart ist Franziskanerpater. Bruder Thaddäus lebt auf dem Franziskushof in der Mark Brandenburg. Jeden Donnerstag fährt er mit seinem Mercedes zwei Stunden über schlecht asphaltierte Landstraßen und streift die weiße Metzgerschürze über die graue Kutte, um den Berlinern Wurst und Fleisch zu verkaufen. Von Schweinen, Schafen, Gänsen und Perlhühnern, die auf seinem Gehöft ein tierwürdiges Dasein führen durften und am Ende für einen guten Zweck ihr Leben lassen. Denn auf dem Franziskushof finden die ihr Auskommen, die sonst von Almosen und Sozialhilfe leben. Und ohne die Würste wäre der Hof nicht das, was er heute ist: das einzige bemerkenswerte Ausflugsziel in einem Umkreis von vielen Kilometern graufarbenen Ackerlandes, durchbrochen lediglich von Traktorspuren, rechteckigen Wassergräben und mannshohen Gebüschen, die hin und wieder ein Storch auf seiner hoffnungslosen Suche nach einem Kirchturm überfliegt.

»Da draußen, da kommt doch nie ein Mensch hin!«, prophezeite man Bruder Thaddäus, als er sich entschloss, auf das Angebot eines Bauern aus Zehdenick einzugehen, der nur noch eines im Sinn hatte: Weg aus dieser Ödnis! Also sprach er zu Bruder Thaddäus: »Du kannst alles haben: die Olle, die Kinder, das Haus. Alles!« Auf die Olle und die Kinder verzichtete der gläubige Mann demütig. Doch das Haus nahm er. Und der Bauer aus Brandenburg suchte tatsächlich das Weite. Kehrte er heute zurück, er würde seinen Augen nicht trauen.

An den Wochenenden kommen die Ausflügler aus der finanzschwachen Hauptstadt in Scharen nach Zehdenick, um bei Wein, Bier und Schweinebraten Mut für die Zukunft zu schöpfen. Und sie kommen, um Bruder Thaddäus’ christliches Wort zum Sonntag zu hören, das er in der Kirche der Heiligen Familie direkt überm Klosterstübchen spricht. Vor der Abreise kaufen sie noch einige Gläser jener Leberwurst, mit der alles anfing und die den Hof bekannt gemacht hat. Schon vom ersten Schwein, das die Brüder gekauft hatten, um autark zu sein, hatten sie den neugierigen Besuchern aus der Nachbarschaft etwas abgegeben. Ein Päckchen Proviant für den Weg. Beim nächsten Schwein, das geschlachtet wurde, hatte Bruder Thaddäus die Wurst schon mit dem Zollstock abgemessen und zentimeterweise verkauft, und heute wird sie in der professionellen Klostermetzgerei in Zehdenick aufs Gramm genau abgewogen.

»Geldverdienen ist genauso schön wie beten«

Dass die Geschäfte einmal so gut laufen würden, damit hatte selbst der gläubige Thaddäus nicht rechnen können, als er sich 1993 mit Bruder Lukas daranmachte, das Dach des desolaten Hofes abzudichten. »Es gab keinen Raum, in den es nicht hineinregnete, es sah hoffnungslos aus.« Und als sich die beiden Brüder am Heiligen Abend auf den Weg machten, um am Ostbahnhof unter den Obdachlosen Berlins nach Mitstreitern und Mitbewohnern zu suchen, wollte niemand mit ihnen in ein Dorf namens Zehdenick fahren. »Die waren plötzlich alle vielbeschäftigt, jeder hatte etwas vor!« Lediglich zwei alte Bekannte von der Suppenküche in Pankow erklärten sich bereit, mit den Gläubigen in die Einöde zu ziehen und »mit der Hände Arbeit ihr Leben zu verdienen«. Auch als Thaddäus ihnen nach dem Essen zeigte, welche Arbeiten auf dem Hof auf sie warteten, schienen sie noch begeistert von dieser Idee des Franz von Assisi und dem gemeinsamen Leben und Arbeiten mit den Franziskanern. Zum Frühstück am nächsten Morgen allerdings ward keiner von ihnen mehr gesehen.

Inzwischen sind einige Jahre ins einsame Land gegangen, und inzwischen leben 25 »schwarze Schafe« auf dem Hof, die sich um 60 Lämmer, 200 Schweine, 1600 Gänse und Hühner und die beiden schottischen Hochlandrinder kümmern. Es sind Obdachlose, Arbeitslose, entlassene Strafgefangene, Vagabunden, Männer und Frauen. Sie haben ihre Ruhe hier, leben im Frieden von Zehdenick. Die Vergangenheit liegt in der Ödnis weiter zurück als in Berlin. »Wir sind hier eben ein paar Kilometer weg von allem«, sagt Thaddäus, der der Einzige ist, der ihren Frieden noch stören kann. Denn die Schäfchen haben Respekt vor ihrem Hirten, der den Hof mit freundlicher und unnachgiebiger Strenge regiert. Thaddäus blickt auf das hölzerne Kreuz vor seiner Brust und lächelt. »Manche sagen sogar, die hätten Angst vor mir. Na ja… – schaden kann das nicht!«, sagt er und streicht mit der Hand über den Bart. Ein florierendes Unternehmen braucht eine starke Führung.

Dabei hatte Thaddäus niemals Schweine züchten wollen! Er hatte sich für den sanften Weg des Franz von Assisi entschieden: Er wollte Blumen sammeln und, ganz wie sein heiliges Vorbild, mit bunten Sträußen in der Hand durchs Leben gehen. Jahrelang hat Bruder Thaddäus sich mit der Kunst des Blumenbindens beschäftigt, heute misst das Trockenblumenstudio auf dem Franziskushof einige hundert Quadratmeter. Und als Thaddäus noch im Franziskanerkloster in Pankow lebte und mit Schwester Monika die Suppenküche für die Armen organisierte, zog er als »Leierkastenfranziskaner« mit Drehorgel und Trockenblumen vor die KarstadtFilialen. Von dem Erlös kaufte er Fleisch, Knochen und Suppengrün. Als sich jedoch im Lauf der Monate immer mehr Hungrige vor dem Kloster einfanden – denn es war die Zeit, als die Mauer schon eine Weile gefallen und das Begrüßungsgeld längst ausgegeben war –, fuhr Bruder Thaddäus zum Großmarkt in der Beusselstraße, wo im Morgengrauen Hunderte von Lkws das Gemüse für die Millionenstadt anlieferten, und bat um Spenden für die Armen. Am Ende gelang es ihm sogar, C&A einen Obolus in Form wärmender Socken zu entlocken und die Deutsche Bank zu einer kleinen Geldspende zu überreden. Schließlich ist Bruder Thaddäus ein gelernter Kaufmann, der vor seinem Leben mit Christus ein Hamburger Filialleiter war.

Es ist demnach kein Wunder, wenn die irdische Filiale des Heiligen Franziskus auf dem kargen Brandenburger Boden so wunderbar gedeiht – ohne jegliche Subventionen. »90 Prozent der Einnahmen kommen aus der landwirtschaftlichen Produktion!« Das war zwar nicht so geplant. Aber was hätte man tun sollen? Die Leberwurst war eine Fügung! Ein Segen für Haus und Hof! »Außerdem ist ja Geldverdienen genauso schön wie beten«, sagt Exfilialleiter Thaddäus.

Alles, was der christliche Hof erwirtschaftet, fließt in die Kasse des Franziskushof Obdachlosenhilfe e. V. oder wird ins expandierende Unternehmen investiert. Acht Hektar Land hat Thaddäus bereits zukaufen müssen, um die steigende Nachfrage nach Fleischlichem aus Zehdenick zu befriedigen. Sieben Angestellte vertreiben die Waren auf verschiedenen Märkten in Berlin und im Umkreis, und seit einigen Monaten hat der Franziskushof sogar ein eigenes Geschäft in Ku’dammNähe.

Auf dem Hof selbst bereitet man sich derzeit auf noch größere Scharen von Touristen vor. Ein Parkplatz wird gebaut. Bungalows gibt es schon. Sie stehen gleich neben dem alten Bauwagen, in dem die Hühner ein und aus gehen, zwischen krummen Gartenzäunen und verrosteten Heugabeln, hinter dem Stall und vor dem endlosen Acker. Sie heißen Sankt Clara oder Sankt Maria de Angelis oder Sankt Franziskus und bieten gegen geringes Entgelt Unterkunft für die Nacht. Dass die neue Sekretärin des Bruders früher im Tourismus gearbeitet hat, ist die bislang letzte göttliche Fügung.

Und wenn der Bauer, der einst die Ödnis verließ, tatsächlich an einem dieser heißen brandenburgischen Sonntage zurückkehren würde und von ferne in der flirrenden Sommerluft die vielen Pilger auf seinen alten Traktorspuren sähe und wenn ihm dann plötzlich die Gestalt Jesu und die nackte Eva unter dem Apfelbaum erschienen, wenn er also diese riesigen Wandmalereien auf seinem Schweinestall sähe und dazu noch den kleinen, mit Kürbissen und Gurken bepflanzten Kalvarienberg mit dem gekreuzigten Christus darauf – er würde nicht nur seinen Augen nicht trauen. Er würde an seinem Verstand zweifeln und diesem gottverlassenen Ort ein für alle Mal den Rücken kehren.

Die Zeit 2002
© Hans W. Korfmann

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