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Keine Spuren im Sand

Ein Delfin in Asturien

Asturien ist ein merkwürdiges Land. Ein Konglomerat aus Bochum, Bodrum und Bad Gastein. Es gibt Kühe auf grünen Weiden vor kleinen Bauernhäusern mit Blick übers Tal; es gibt das Meer mit seinen Stränden und Sonnenschirmen wie am türkischen Mittelmeerstrand; und plötzlich ragen neben den Palmen die rostigen Türme stillgelegter Zechen in den blauen Himmel, rücken arbeitslose Förderbänder, rauchlose Fabrikschlote und die leeren Hallen alter Stahlwerke mit ihren zerbrochenen Fensterscheiben ins idyllische Bild.
Vielleicht sind es diese schwer zu vereinbarenden Gegensätze, die das Land für Touristen so unzugänglich machen. Vielleicht ist es der Geruch nach schwerer Arbeit in Bergwerken, der die Deutschen beim Urlauben stört. „Vielleicht haben wir uns auch nur zu spät um den Tourismus bemüht!“ sagt Delfina Garcia Ordiales, eine zierliche, flinke Frau, die sich um die Präsenz Asturiens in den europäischen Reisekatalogen bemüht. Aber außer dem Tourismus hat das Land wohl kaum noch eine Chance. Der Abbau von Kohle und Eisenerz, der eine Spur von Wohlstand und den Anschluss ans Eisenbahnnetz und den Rest Spaniens in die abgelegene Region brachte, gestaltet sich in den stark gewundenen Bergadern der kantabrischen Kordillieren immer schwieriger. Schon kommt die meiste Kohle aus Südafrika. „Wir haben unter den jungen Leuten der Region eine Arbeitslosenquote von 40%“, sagt die Frau mit dem poetischen Namen und nennt Details, die jedes Prospekt verschweigen würde: Wohnungslosigkeit, Drogenkonsum, Selbstmordquote. Sie sagt es schnörkellos: „Wir bemühen uns, die touristischen Angebote unseres Landes besser zu verkaufen“. Delfina ist anders als die üblichen Reiseverkäufer. Sie hat etwas von der Ehrlichkeit der Bergarbeiter. Eine Tendenz zu Solidarität. „Delfine“, schreibt der Brockhaus, „leben in Gruppen von 5 bis zu mehreren 100 Tieren. Hilfeverhalten unter Gruppenmitgliedern wurde häufig beobachtet.“

Im Grunde hat Asturien alles, was der Tourist zum Glücklichsein braucht: Einen neuen Flughafen mit Blumenrabatten und einem Kreisverkehr davor. Glänzende Asphaltstreifen, die sich über gigantische Brücken schwingen und in Tunnels tauchen und die Berge und die Küste miteinander verbinden. 200 Postkartenstrände auf 345 Kilometern Küstenstreifen, idyllisch gelegen in tiefen, halbkreisförmigen Buchten, die das Meer mit uralter Unermüdlichkeit in die Steilwand gegraben hat. Menschenverlassene Sandstreifen und bunte Strände mit Eisverkäufern, kreischenden Kindern, Surfern und Bademeistern, Strandkörben und Strandbars. Frauen, die lasziv an Strohhalmen nuckeln und Männern, die mit geschwollenen Brüsten an ihnen vorüberstolzieren, und die eleganten Bögen lang gestreckter Promenaden am Meer.
Das kleine Städtchen Llanes mit seinen drei Badebuchten und dem langen Hafenbecken gehört zu den Erfolgreichsten unter den asturischen Badeorten. Mit seinen pastellfarbigen Einfamilienhäuschen, dem englischen Rasen im eingezäunten Vorgarten mit der Palme, dem Dalmatiner und dem vergoldeten Briefkästen, ahnt man, was einmal werden könnte aus Asturien. Der Golfplatz auf dem lang gestreckten Hügel hinter dem Meer und vor der Kulisse der steil aufragenden Kordillieren, die nur 9 Kilometer von der Küste entfernt schon auf über 1000 Meter angewachsen sind, wird bald in den Golfführern aller Welt stehen. Selten kommen Berg und Meer einander so nah.
Auch die Dörfer der Fischer und Walfänger, versteckt in kleinen, uneinsichtigen Felsnieschen, in denen die Möwen den ganzen Tag ohne einen einzigen Flügelschlag im Wind kreischen, sind postkartentauglich. Zwei Restaurants am steinigen Ufer, grellbunte Häuser, Boote und Reusen im Hafen und hölzerne Kisten voller Hummer, Langusten, Muscheln und Fischen, von denen Karstadt nur träumen kann. Die Orte heißen Tazones oder Luanco, Cudillero war einst ein Schlumpfwinkel der Piraten. Heute steht ein Souvenirverkäufer am Kai mit hölzernen Pantinen, hölzernen Segelschiffchen, und - niemand weiß, auf welchen Schleichwegen sie ins Land der katholischen Kirchen und Klöster kamen - den hölzernen Figuren dickbäuchiger Buddhas.
Denn natürlich gibt es auch das in Asturien: Kirchen und Klöster. „Sonst läge Asturien nicht in Spanien!“, sagt Delfina Garcia Ordiales, lacht und schüttelt ihr rotes Haar. Sogar einen Jakobsweg gibt es. Jedoch einen, auf dem kaum jemand geht. „Alle Wege Spaniens führen nach Santiago de Compostela. Aber unser Weg ist der echte Jakobsweg“, sagt Maximo Marionella, der Mönch im Zisterienserkloster Santa Maria de Valedios. Maximo Marionella öffnet mit seinem großem Schlüsselbund die geistigen Schatzkammern seines Reiches und führt die Besucher zu den steinern Sarkophagen des „kleinen Klösterchens“, das im fernen Jahr 893 von Alfons III auf der grünen Wiese errichtet worden sein soll.
Maximo Marionella ist einer von sieben verbliebenen Mönchen, die auf den knarrenden Holzböden der langen Klostergänge langsamen Schrittes ihre Wege gehen. „Ich bin der Jüngste hier!“, sagt er und putzt sich die vor Erregung beschlagenen Brillengläser. Viele Besucher empfängt er nicht. Während er die Türen gewissenhaft wieder verschließt, läßt er Delfina nicht aus den Augen. Maximo Marionella ist Italiener, vor vielen Jahren hat man ihn ins ferne und einsame Asturien versetzt. Er hebt die Schultern. Es war Gottes Wille. „Arrividerci“, sagt die kleine Frau zum Abschied und zwinkert dem Mann in seiner schwarz-weißen Soutane noch einmal zu. „Arrividerci se Roma!“, sagt der Exilant und lächelt hoffnungsfroh, doch der Delfin ist längst im Wäldchen untergetaucht.
Dabei hat Asturien eigentlich alles, was ein Mönch zum Glücklichsein braucht. Obendrein braut man in der Gegend das Nationalgetränk der Asturier. Sidra ist anders als Cidre oder Äppelwoi, er lagert in Eichenholzfässern, er ist der Wein Asturiens, und er wird zum Dekantieren aus einer Höhe von einem halben Meter in kleinen Schlücken ins Glas geschüttet. Weshalb die von Studenten besetzten Treppen und Plätze von Gijon, der Universitätsstadt am Meer, immer einen fruchtigen und schweren Geruch verbreiten. Auch seinen Chillida hat Gijon: Hoch über dem Meer steht auf den begrünten Festungsanlagen ein Betonhalbkreis auf Stelzen, ein gigantischer Kopfhörer, in dem sich Wind und Meeresrauschen verfangen. Gijon lebt, es veranstaltet ein Filmfestival, eine Buchmesse und Stierkämpfe, die Nächte in den Bars der Altstadt sind lang. Im Grunde hat Asturien alles, was ein Land zum Glücklichsein bracht, und manchmal scheint sogar die Sonne.
Wären da nicht die Ruinen der Zechen. Mahnmale des Verfalls. Von den Postkarten sind sie längst verschwunden. Es sei denn, es sind Postkarten aus El Entrego. Denn irgendwann kam man auch in Oviedo, der Schwesterstadt Bochums, auf die Idee, ein Bergbaumuseum zu eröffnen. Heute erzählt die Schaugrube von El Entrego vom ersten Streik der asturischen Kumpel, die ihre Arbeit niederlegten, weil es in der Kantine jeden Tag nur Lachs gab. Sie erzählt vom Leben in den Stollen, die tiefer liegen als der Meeresspiegel, sie erzählt die Geschichte der Bergarbeiter, die sich 1934 als erste gegen Franco erhoben, und sie erzählt vom Rio Sella, der zum Rio Negro wurde, so schwarz war sein Wasser. Inzwischen sind die Lachse zurückgekehrt und der Fluss ist ein Biotop, auf dem eine der berühmtesten Kanuregatten der Welt ausgepaddelt wird. Auch die Wäsche hängt zum Trocknen längst wieder vor den Fenstern der alten Bergdörfer. Die Luft ist rein, seit die Öfen der Stahlindustrie auf kleiner Flamme brennen. Doch nur wenige kommen in die Berge Asturiens, die Menschen zieht es ans Meer.

Auch Freddy. Kühe melken, das ist nichts für Alfredo Florez Aveces. „Segeln war schon immer mein Traum!“, sagt er. Sein 22 Meter langer Katamaran ist der größte Segler im Hafen von Gijon, der anders ist als der Hafen von Monaco oder Nizza. Es fehlen die strahlenden Segel, die bunten Wimpel aus den Ecken aller Welt, die eingeölten Mädchen auf dem Deck. Was hier im Hafen liegt, trägt die spanische Flagge und ist oft nicht größer als die Schlauchboote, mit denen Urlauber die Costa Brava erobern. „Rentnerboote!“, sagt Freddy und lacht. „Die fahren im Juli zum Fischen, sonst liegen sie nur hier herum.“
Freddy steuert mit leichter Hand durch die schwere See Asturiens und erzählt von den Delfinen, die er gestern gesehen hat. Wie elegant sie durch die Wellen tauchen. Delfina Garcia sitzt bleich in ihrer orangenen Schwimmweste am Heck des Bootes und hält den Kopf mit beiden Händen umklammert. Ihr ist übel, jede Welle schwappt bis in den Hals hinauf. Delfina Garcia Ordiales kommt vom Meer, sie liebt das Meer, und sie trägt den Namen des elegantesten Fisches der Weltmeere. Aber die See ist schwer, die See ist keine Idylle, die See ist wild. Die See macht krank. Seekrank. „Ich frage mich jedes Mal, warum ich das eigentlich mitmache!“ Aber „Hilfeverhalten unter Gruppenmitgliedern wurde häufig beobachtet“. Und irgendjemand muss es schließlich machen, wenn es weitergehen soll mit diesem Volk vom goldenen Dreieck zwischen Bodrum, Bochum und Bad Gastein.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
© Hans W. Korfmann

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