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Die Brücke

Durch Chalkida, die vom Meer geteilte Stadt, strömen Menschen und Fluten nach ganz eigenen Gesetzen

Hier fließt alles zusammen. An der schmalsten Stelle der Meerenge sind die Uferwege am breitesten. Da wuseln in den Cafés die Menschen durcheinander, laden Athener ihre Frauen zum Essen ein, versuchen Geschäftsleute Geschäftsleute zu überreden, junge Verliebte ihre jungen Geliebten. An der Brücke, die sich über die Straße von Euripos schwingt, stehen die großen Hotels, die sich Lucky oder John’s nennen, damit es so klingt, als hätte die kleine Stadt Anschluss an die Welt gefunden. Hier warten die Angler und die Taxifahrer, befinden sich das Zoll-, das Hafenamt und die Präfektur. Und hier, an der Brücke, zwei Meter von den im Wasser schaukelnden Booten entfernt, endet das einsame Pärchen der Gleise im Bahnhof von Chalkida, als wollten die unter der Sonne glühenden Eisenstränge ein Bad im Golf von Euböa nehmen.  Aber noch immer verirren sich kaum Fremde an diesen griechischen Bosporus, in die durchs Meer geteilte Hauptstadt Euböas, der zweitgrößten Insel Griechenlands. Kaum ein Urlauber kennt sie. DenKapitänen aber ist Chalkida ein Begriff, sie sparen auf ihrem Weg nach Kleinasien einen Tag, wenn sie die Passage durch Chalkida wählen. Obwohl sie oft lange im Hafen liegen müssen und die Mannschaften vor Langeweile Angelschnüre von Bord werfen, sich in den Hafenlokalen herumtreiben und mit den Griechen schon am frühen Morgen Karten spielen. Es rentiert sich eben für die Kapitäne, den kleinen Obolus für die Passage zu entrichten und zu warten, bis irgendwann in der Nacht endlich dieBrücke eingezogen und derWeg frei wird für die Frachter. Nicht nur die Schiffer, auch die Taxifahrer müssen warten. Manchmal liegen da zehn Schiffe, dann dauert es eine Stunde, bis sie durch sind. Es kann passieren, dass ein Fahrgast zum Bahnhof will, und plötzlich blinken die roten Ampeln. Dann wird sie einfach vom Festland abgenabelt, die zweitgrößte Insel Griechenlands. Dennoch sagt auch der Taxifahrer, dass das ein „schönes Brücklein“ ist. Alle in Chalkida lieben die eiserne Verbindung zum Rest der Welt, auch wenn die nur einen Steinwurf entfernt ist. 

 Noch bis in die sechziger Jahre verband eine rostige Drehbrücke die Insel mit dem Festland und ließ mehrmals am Tag die Schiffe durch. Noch einige Jahrzehnte früher war sie aus Holz und wurde hochgezogen, wenn ein Schiff passieren wollte. Und in jener grauen Vorzeit, als die Osmanen mit 300 Schiffen und 300 000 Kriegern Kurs auf das strategisch vorteilhafte Städtchen nahmen, bestand sie aus fünf hohen steinernen Bögen. Im Lauf der Jahrhunderte wurde „das Brücklein“ unzählige Male zerstört, und auch der venezianische Stadtverwalter Paolo Eritzo wurde in zwei Teile zersägt, nachdem er zuvormit ansehen musste, wie seine Tochter zuerst vergewaltigt und dann enthauptet wurde. 

 Ungefähr 400 Jahre, bevor Jesus über das Meer wandelte, ragte in derMitte der schmalen Passage sogar ein Inselchen aus der Strömung und bildete den Sockel für zwei kleine Brücken. Etwas später stand Aristoteles, von den Athenern vergrämt und zu seiner Mutter nach Chalkida geflüchtet, sinnierend am Ufer und studierte die Fluten. Er war einer der Ersten, der vergeblich versuchte, das Geheimnis der launischen Strömung zu ergründen. Zwei Jahre später soll er sich aus Gram das Leben genommen haben, berichten die Alten von Chalkida nicht ohne Stolz. Und auch der ältere Kollege Euripides soll, seinem Hang zum Drama folgend, auf der Suche nach dem Grund der wechselnden Strömungen ums Leben gekommen sein, indem er sich in die Fluten stürzte. Weshalb sie Meerenge von Euripos hießen. So erzählt man das in Chalkida, auch wenn die drei Silben wohl aus dem Venezianischen stammen und mit Euripides nichts zu tun haben. Viermal am Tag wechselt die Strömung nach bis heute nicht ganz durchschaubaren Gesetzmäßigkeiten. Immer scheinen die kleinen Boote imKampf gegen die Strömung in den Fluten unterzugehen. Die einen versuchen es in einer Schlangenlinie, andere bleiben nahe am Ufer. Die einen nehmen das Steuerruder zu Hilfe und wedeln wiemit einer Flosse, um den qualmenden Motor vor dem Exitus zu bewahren, andere versuchen es in der Bugwelle größerer Gefährte. Doch selbst größere Schiffe haben ihre Probleme in der engsten Meerenge derWelt. Nur eine mit einer Schreibmaschine verfasste und mit handschriftlichen Korrekturen versehene Tabelle im Hafenamt gibt Auskunft über das Kommenund Gehen der Fluten.Bis auf eine halbe Stunde genau kann sie den Strömungswechsel, jenen Moment, an dem das Wasser einige Minuten lang friedlich ist, voraussagen. An sechs Tagen im Monat aber, immer um den 8. und den 23. herum, kann auch die Tabelle des Hafenamtes nicht mehr weiterhelfen. Dann ist die Flut unberechenbar. 16 Richtungswechsel hat man schon gezählt innerhalb von 24 Stunden und Geschwindigkeiten von bis zu zwei Metern pro Sekunde gemessen.  

 „Wenn das Wasser wechselt, beißen sie am besten!“, sagt ein Junge, der bei der Brücke angelt. „Jedenfalls behaupten das alle. Wenn das Wasser von Nord nach Süd wechselt!“ Nicht nur Angler und Kapitäne beobachten das Wasser aufmerksam: Die Daten von der Brücke werden weltweit übermittelt. Wenn sich irgendwo auf der Welt etwas verschiebt, wenn ein Vulkan brodelt, die Erde bebt, dann spürt mandas in der Enge von Euripos, dann bewegt sich das Meer anders als sonst. „Einen Ort, wo die Wasser so verrückt spielen wie hier, den gibt es nicht noch einmal!“, sagt einer von der Hafenmeisterei.

 Nicht nur unter der Brücke brodelt es, auch auf ihr ist das Leben bewegt. Transportmittel aller Farben und Formen, Größen und Preisklassen bevölkern die Brücke, darunter die Taxis, die nicht gelb sindwie in Athen, nicht blauwie in Saloniki, sondern weinrot leuchtend, die schönsten Taxis Griechenlands mit den freundlichsten Chauffeuren. So sehr sich der Verkehr zusammenballt auf dem schmalen Steg auf dem vielbefahrenen Weg von Euböa nach Athen, so ruhig geht es zu: kein Hupen, kein Drängeln, kein quietschendes Bremsen. Nur wenn Jorgos Gikas durch die Stadt kommt, springen sie zur Seite, die Fußgänger und die Autofahrer. Man kennt ihn, diesen Jorgos aus Kimi, der alles gleichzeitig macht, bremsen, telefonieren, hupen, Gas geben und über den Rückspiegel flirten. „Alte Schule“, lacht er, „fünfzig Jahre ohne Unfall!“ Er fuhr schon, als es in Chalkida gerade mal zehn Taxen gab. Er weiß,wie sich der Verkehr verhält, wann er nach Athen und wann er wieder zurückfließt. Nach einem ganz anderen Rhythmus als die Fußgänger, die viermal am Tag die Richtung wechseln, genau wie das Wasser. 

Die Fußgänger nämlich zieht es morgens zur Insel, um auf den Markt zu gehen, umzu arbeiten, in die Schulen zu gehen, auf die Ämter, in die Kirche. Kinder rennen, weil sie zu spät sind, Männer hasten mit Aktentaschen unter dem Arm über dieBrücke, Frauen eilen zum Fischhändler. Gegen Mittag kehren alle schon etwas langsamer heim, die Kinder bummelnd und quatschend, die Frauen mit den schief getretenen Schuhen und den prallen Plastiktüten, und dieMännermit den Aktentaschen. Sie kehren heim aufs Festland, zu ihren kleinen Häusern und ihren kleinen Geschäften an der Küste Böotiens, wo das Leben noch bescheidener und nicht so teuer ist. Wo alles etwas kleiner und langsamer ist. Nur auf den Hügeln über dem Golf, wo reiche Athener begonnen haben, Villen zwischen Olivenhaine und Weinberge zu setzen, wo die Stadt langsam und hässlich auszufransen beginnt, wo immer größere Geländewagen den Berg erklettern, da ist man in ständiger Eile. Unten am Ufer aber sitzen sie vor kleinen Tavernen, trinken und spielen Karten.

Und blicken hinüber zum anderen Ufer. Zur Brücke, wo zum zweiten Mal der Strom einsetzt. Weil die laue Nacht lockt. Weil sich die Brücke im Licht violetter und roter Scheinwerfer in einen illuminierten Laufsteg verwandelt, weil jetzt Frauen mit erhobenen Köpfen und tiefschwarzen Haaren, stolz wie Callas und Athene, über die Brücke stolzieren. Frauen, die kein Mann nach der Uhrzeit fragen sollte. Jetzt bleiben auch die eiligen Männer stehen, diskutieren und blicken in die Ferne wie Aristoteles und reden über die Strömung, obwohl sie sonst nur vomGeld oder vom Essen sprechen. Alle blicken ins Wasser: die kugelbäuchigen und gedrungenen Thessalier, die schnauzbärtigen Kreter und die dunkelhäutigen Nachfahren der Einwanderer von Kleinasien, die 1922 diese nur einen antiken olympischen Speerwurf vom Festland entfernte Insel betraten und Neapoli gründeten, die Neustadt, heute ein wuseliges, kaum noch orientalisches Viertel hinter der alten Markthalle.  

In der Halle aber, in diesem Labyrinth aus Wellblech, Backstein, Holz und Zement, herrscht noch der Orient. Hier riecht es wie wohl vor hundert Jahren schon, hier duftet es nach Brot und süßem Gebäck, nach Sesam, Jasmin, Zitronen und Orangen, nach qualmendem Weihrauch und qualmendem Souvlaki und qualmenden Tintenfischen, nach Wein, Kräutern und billigem Parfüm, nach Schweiß und dem Petroleum des Hafens. Hier fletschen enthäutete Schafe ein letztes Mal die Zähne, baumeln Hühner lang vom Fleischerhaken, stinken Fischköpfe und Kohlblätter im Rinnstein und springen jaulende Katzen aus den Mülltonnen. Ratten huschen vorbei an dem kleinen Verschlag, in dem Thanassis geduldig auf kleiner Kohlenflamme seine winzigen Sardellen grillt, wo zwischen heulenden Huren Männer mit verwegenen Gesichtern sitzen und mittags Wein und Whisky und Bier trinken zu diesen meterlangen Würsten, die mit groben Stücken fettigen Fleisches, mit undefinierbaren Kräutern und getrockneten Orangenschalen gefüllt sind. 

Seit vierzehn Jahren steht auch Kostas Lagatheras hier mittags am Tresen, der Bootsbauer. Auch er versucht anhand eines schwankenden Tellers zu demonstrieren, wie das ist mit der Flut in der Enge von Euripos. So stehen sie hier und philosophieren, die Fischer, die Bootsbauer, die Händler, der Ikonenmakler, der Losverkäufer, die Huren und ihre Freier, ratlos wie einst Aristoteles, zwischen den schiefen Wänden ihrer Markthalle.  Später, wenn es dämmert, trinken sie ihren türkischen Mokka auf der Terrasse des großen Kafenions. Oder sitzen am grünbespannten Kartentisch mit dem Tavlibrett darauf, das schon ganz dunkelhäutig geworden ist von den schwieligen Händen all derMänner, die hier würfelten.

Noch immer warm steigt die Luft vom marmorgepflasterten Platz in den abendblauen Himmel. Sie reden jetzt von Quitten, Orangen, Wein, sie reden vom Bad auf Paros und der Limonade von Kalimnos. Später, wenn endlich etwas Kühle herabsinkt, kommen sie aufs Essen, sprechen vom Oktopus, der sich so wohlfühlt in den vielen Buchten Euböas. Überall auf der Insel begegnet man dem Geruch seines bratenden Körpers, diesem unverwechselbaren Geruch, weder Fisch noch Fleisch.

Bis sie dann, irgendwann, wenn es noch ein bisschen dunkler ist, dochwieder auf das alte Herz der Stadt zu sprechen kommen. Den unruhigen Puls, der dort unter der Brücke schlägt, in der Meerenge von Euripos, der schmalsten der Welt. Was immer die Wissenschaft auch herausfinden mag: Sie werden es nicht akzeptieren. Sie werden es behüten, ihr Geheimnis. Sie brauchen es – zum Erzählen.

Süddeutsche
© Hans W. Korfmann

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