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An heiligen Ufern

Das Tal des Sil gehört zwar zu den ärmsten, aber auch den schönsten Gegenden in der spanischen Provinz Galicien. Jetzt sollen die vielen Klöster und der Weinanbau für mehr Geld in der Kasse sorgen.

Von Hans Korfmann

Das Land zwischen den Flüssen Sil und Mino ist ein grünes Land mit braunen Kühen und vom Alter ergrauten, kleinen Steinwällen. In den Tälern drängen sich Eichen und Maulbeerbäume zu dichten Wäldern zusammen, über die Hügel aber ziehen sich lichte, freundliche Wiesen. Die ausladenden Kronen großer Esskastanien beschatten im Sommer Haus und Hof und die vielen Kirchen in der Ribeira Sacra.
Vor der kastanienbraunen Tür einer dieser Kirchen wartet Don Dramon, der Pfarrer. Er wartet auf eine kleine Gruppe von Touristen, die sich angekündigt hat, um das ehemalige Bernhardinerinnenkloster von San Paio de Diomondi zu besichtigen. Die Mauern von San Paio gehören zu den ältesten der Gegend. 70 Kilometer westlich von hier ist eine Stadt reich und berühmt geworden durch ihre alten Mauern: Über 30 000 Betten hat man im Bezirk mit der berühmten Kathedrale von Santiago de Compostela aufgestellt, doch sie reichen nicht aus für die vielen Pilger, die jedes Jahr den Jakobsweg entlangwandern. Davon kann Don Dramon nur träumen.
Diomondi liegt nicht am Pilgerweg, und für das Gemäuer aus dem zwölften Jahrhundert interessieren sich nur wenige. Hier herrscht Ruhe, wenn nicht Langeweile. Selbst die braunen Wiederkäuer hinter dem Kirchenzaun haben nur einen müden Blick für die kleine Gestalt des Pfarrers mit den abstehenden Ohren übrig, wenn er wieder einmal kommt, um die Glocken zu läuten. Wozu macht er sich eigentlich immer diese Mühe, es ist doch kaum noch jemand hier. Die wenigen, die geblieben sind, stehen meist unbeweglich auf den Wiesen und Lichtungen, in ständiger Erwartung des Regens einen Schirm auf dem Rücken oder einen Schlapphut ins Gesicht gezogen. Nur ihre Augen folgen den Automobilen, die manchmal am hügeligen Horizont der Ribeira Sacra auftauchen und langsam an ihnen vorüberrollen, bis sie im nächsten Tal wieder verschwinden. In diesem Moment wenden die Menschen der Ribeira Sacra ein wenig den Kopf zur Seite oder laufen ein Stückchen hinter ihren Schafen her. Bis das nächste Auto kommt und sie wieder in Bewegungslosigkeit verfallen.
Don Dramon sieht auf seine Armbanduhr. Die Zeit ist knapp auf Erden. Mit kurzen Beinen und flinken Schritten eilt er durchs Leben, über die kleinen Sträßchen und die Hügel von Kirche zu Kirche, um das Wort Gottes zu verkünden: "Jeden Sonntag fünf Gottesdienste in fünf Gemeinden," sagt der kleine Vertreter Gottes. "Irgendwann wird es keine Pfarrer mehr geben in dieser Gegend. Dann müssen die Gläubigen zum Beten in die nächste Stadt fahren. Und die ist weit!" Dabei drängen sich nirgends in Europa so viele Klöster so dicht aneinander wie in der Ribeira Sacra. Nur bewohnt sind sie nicht mehr. Aber Don Dramon ist ein gottesfürchtiger Mensch, Klagen liegt ihm nicht. Natürlich beobachtet auch er mit Skepsis, wie die Bauern seit Generationen Galicien verlassen, als sei es ein verfluchtes Land. Sie ziehen davon, um in der Ferne ihr Glück zu suchen, in den großen Städten Spaniens und den reichen Ländern Europas, in Südafrika oder in Südamerika. Zugegeben, das Land gab nie viel her, in den mit Steinwällen umfriedeten Gärten wuchsen immer nur Tomaten und Kartoffeln und die mannshohen Stünke des Weißkohls. Dennoch kehrten einige der Auswanderer zurück. Die Heimkehrer haben neue Häuser gebaut, um den Lebensabend in der Ribeira Sacra zu verbringen und eines Tages unter den Kastanien zu ruhen. Schließlich ist es nirgends so schön wie in der Heimat! Und der Tod ist lang.
Don Dramon mag die Menschen der Ribeira Sacra. Er grüßt seine Nachbarn mit aufmunterndem Lächeln und streckt sich, um seine kleine Hand auf ihre breiten Schultern zu legen. Er macht ihnen Mut. Es gehe bergauf mit Galicien. Auch mit dieser entlegenen Gegend hier. Der Strom der Touristen werde eines Tages auch hier vorbeikommen. Denn schließlich sei da noch der Wein. Den kannte bis vor kurzem niemand. Doch nun hat der namenlose Wein der Region einen Namen bekommen, die bis dahin nackten Flaschen tragen seit 1997 ein Etikett und die offizielle Herkunftsbezeichnung: "Ribeira Sacra! Das klingt doch noch besser als Rioja oder Navarra", sagt Don Dramon. Der Wein von den "Heiligen Ufern". Ein schwer zu erntender Wein, und ein wahres Wunder von Weinberg. Denn die "Heiligen Ufer" sind steil, und die warmen Hänge entlang der Wasserader des Sil Schwindel erregende Abgründe. Früher mussten sie mit Eseln und Maultieren auf die schmalen Terrassen, die "socalcos", wo eigentlich nicht einmal Platz genug für einen Weinstock ist. Jetzt transportieren kleine Wägelchen die Trauben auf Schienen den Hang hinauf.
Bis hinunter an den Fluss reichen die schmalen Stufen, die der Mensch vor Jahrhunderten in den Berg schlug. Die Römer, ständig auf der Suche nach Gold, waren im Gebirge des Sil fündig geworden, gruben Minen und pflanzten nebenbei die ersten Rebstöcke in den Granit des engen Tales. Für die Wiederbelebung dieser Tradition machte sich Manolo Arnoia stark, ein erfolgreicher Weinhändler und Kellermeister aus Ourense, dessen Frau aus der Ribeira Sacra stammt. 500 Meter über dem Sil, in der Nähe des Dorfes Amandi, baute er eine Kellerei, machte aus Bauern Kellermeister und Vorarbeiter, ließ ein rosafarbenes, modernes Etikett entwerfen und erkämpfte sich die offizielle Herkunftsbezeichnung "Ribeira Sacra". 500 000 Kilo Trauben vergärte der risikofreudige Unternehmer im vergangenen Jahr. Inzwischen findet sich sein "Rectoral de Amandi" auf den Tischen der nobelsten Hotels in ganz Galicien. Vielleicht könnte er, so wie vor einigen Jahren schon der weiße galicische Albarino, zuerst Spanien und dann allmählich Europa erobern. Das zumindest hofft Manolo Arnoia, und das hofft auch Don Dramon. "Der Wein ist ein Segen für unser Land!" Jene Einsiedler, die sich Mitte des ersten Jahrhunderts in den Höhlen am Fluss niederließen und dem heiligen Ufer elf Jahrhunderte später seinen Namen gaben, kamen nicht wegen der meditativen Kulisse und der Stille der Wälder, sondern wegen des lauen Lüftchens. Vor ihren einsamen Unterschlüpfen im Fels entstanden allmählich die ersten Kirchen der Ribeira Sacra. Irgendwann zählte man zwölf Klöster in der Silschlucht, und einer der christlichen Aussteiger brachte es zu weltweitem Ruhm: Ein Mann namens Benedikt beschloss, dem müßigen Lotterleben der langhaarigen Eremiten ein Ende zu bereiten und verfasste die Lehre vom Beten und Arbeiten, ora et labora. Überall, in den steinernen Fresken der Klöster, in Felsnischen oder hohlen Baumstämmen, wacht die Figur des heiligen Benedikt über die Ordnung.
Heute wohnt niemand mehr in den Klöstern. Manchmal wandern spanische Touristen zu den entlegenen Orten im Eichenwald, schleichen durch die kalten Gemäuer von Santa Cristina und staunen über die praktischen Baugewohnheiten der Einheimischen, welche die steinernen Särge der verstorbenen Mönche aus den Gotteshäusern entfernten und die einstürzenden Mauern mit ihnen flickten. Die großen Quader ersparten den Nachkommen des fleißigen Benedikt einige Maurerarbeit. Doch so spektakulär einige Klöster der Ribeira Sacra auch sein mögen: Es gibt einfach zu viele in Spanien, und es findet nur selten jemand den Weg hierher.

"Natürlich kann es nie genug Gotteshäuser geben", sagt Don Dramon. Er beneidet seine reichen Kollegen am Jakobsweg nicht um ihre Kathedralen. Aber er hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn einer der vielen Pilgerwege am Heiligen Ufer entlang geführt hätte. Dann wäre die Ribeira Sacra vielleicht nicht eine der ärmsten Gegenden Spaniens. Aber vielleicht wäre sie auch nicht mehr eine der schönsten. "Wer einmal auf den ’Balkonen von Madrid’ gestanden hat, 500 Meter über dem Sil, und hinunter geschaut hat auf den Fluss und die steilen Weinberge gegenüber, der kommt wieder", sagt Don Dramon und nickt. Der Weg zu den "Balkons de Madrid" führt über eine Heidelandschaft mit blühendem Ginster und Zistrosen auf ein kleines Felsplateau. Hier haben sie gestanden, vor 100, vor 200 Jahren, die Frauen der Ribeira Sacra, wenn sich wieder einmal ein Schiff mit ihren Männern, Söhnen, Brüdern oder Neffen auf die Reise machte. Nach Südamerika, ans Ende der Welt. Hier standen sie und winkten ihnen ein letztes Mal zu, bis das Schiff mit den Auswanderern hinter einer der vielen Windungen des Sil verschwand. Ein Bild, das die Männer während all der Jahre in der Fremde nie vergaßen. Noch heute vermittelt der Blick etwas von der Melancholie des Abschieds, und wenn die heutigen Wanderer langsam den Weg durch die Heide zurückgehen, beschleicht auch sie das seltsame Gefühl: So etwas sieht man vielleicht nie wieder.


Auskunft: Spanisches Fremdenverkehrsamt, Myliusstr. 14, 60323 Frankfurt am Main, Tel. 069 / 72 50 33, Fax 72 53 13, E-Mail frankfurt@tourspain.es; Turgalicia, Estrada Santiago-Noia, km 3, 15896 Santiago de Compostela, Tel. 0034 / 981 542 500, E-Mail turgalicia@xunta.es Internet www.turgalicia.es

Frankfurter Rundschau - 2004
© Hans W. Korfmann

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